In memoriam Don Camillo und Peppone
Was waren sie schön, die Zeiten von Don Camillo und Peppone im Italien des letzten Jahrhunderts. Ein »rechter« Pfarrer und ein »linker« Gewerkschaftsführer regelten die Dorfangelegenheiten stets im Streit, aber letztlich einvernehmlich miteinander, der erstere mit, der letztere ohne Gott. Das Dorf und seine Ordnung hatten feste Strukturen, die Grenze zwischen rechts und links war so klar gezogen, wie ein Kreidestrich auf dem Boden: Fabrikbesitzer und Bauern auf der eine Seite (rechts), Arbeiter und ein paar Künstler auf der anderen (links). Die einen hatten nicht nur Gott, sondern auch Geld. Die anderen meist nur ihrer Hände Arbeit, aber sie waren viele und eine starke Gemeinschaft. Wie das Dorf, so die Nation. Links und rechts waren die politischen Kategorien eines halbwegs gut funktionierenden Nationalstaates, der seine Bewohner noch zur gemeinsamen Arbeit an einem Bruttosozialprodukt anstiften konnte. Wenn die Strukturen nicht so patriarchalisch gewesen wären: man könnte sie aus heutiger Perspektive mit Blick auf soziale Gerechtigkeit geradezu als paradiesisch bezeichnen. Tempi Passati!
Ein Dreivierteljahrhundert später ist das Dorf und sein soziales Gefüge gesprengt, die Fabrik längst abgewandert, die Bauern gegängelt in EU-Bürokratie und die Gewerkschaften scheintot. Die Dienstleistungen der Kleinbourgeoisie und des Handwerks sind vom Bäcker bis zum Schuster verschwunden; unsichtbare, atomisierte, digitale Arbeiter oder Influencer beleben das Stadtbild kaum, die Dorfkneipe ist ebenso geschlossen wie die meisten Rollladen. Wo der Nation das soziale Gerippe genommen wurde, musste Nationalismus in die sozial entkernte Hülle der Nation hineingeblasen werden, um sie auszustaffieren, damit sie nicht in sich zusammensackt: vom Sozialismus zum Nationalismus also, oder le socialisme ou la barberie.
Es war, wie wir wissen, dem Kapital immer egal, ob Staaten (national-)populistisch oder gar autoritär werden, Hauptsache sie bleiben kapitalistisch. Ein paar Verkaufsstellen halten im Dorf das Notwenige vor, den Rest bringt der Paketbote, zumeist mit Migrationshintergrund, Prototyp sublimierter Sklaverei einer post-post-post-Moderne, die nicht einmal mehr die intellektuelle Kraft aufbringt, den Begriff für die nachfolgende Periode der Zeitgenossenschaft hervorzubringen, mit der sie sich gerade selbst ablöst.
Was rechts und links sein sollen, weiß heute niemand mehr. Der Begriff Sozialismus ist verpönt und bringt in den Augen junger Studierender bestenfalls Erstaunen oder Verwirrung, wenn nicht gar blankes Entsetzen hervor. Bei Kommunismus wissen sie nicht mehr, ob das mit C oder K geschrieben wird. Libertär ist das neue liberal, konservativ ist rechts, sozial ist fast gar nichts mehr, und der sogenannte »marxistische Hauptwiderspruch« – der Klassenkampf zwischen Kapital und Arbeit – ist geschickt dissimuliert in gesellschaftlichen »Kämpfen« über das 56. Geschlecht, Gendersternchen oder das »Es«-Pronomen in Queer-Debatten und anderen semantischen Spitzfindigkeiten irgendwo zwischen black people and people of color, ähnlich wie es bei Monty Python um die »Befreiungsfront Palästina« oder die »palästinensische Befreiungsfront« ging. Diese politischen und mit großer Vehemenz ausgetragenen Ablenkungsdebatten erinnern ein wenig an ein X hoch 2, also an mathematische Ableitungen, in denen das X transformiert wird und letztlich verschwindet.
Die postideologische Linke
Willkommen im Zeitalter der »post-ideologischen Linken«, die keine »Linke« mehr ist, und einer »Rechten«, von der zwar viel geredet wird, die aber auch diffus bleibt. Da neuerdings fast alles »rechts« ist, was an politischer Kritik nicht ins Regierungsbild passt – von Corona-Maßnahmen-Kritik über den Bauernprotest bis hin zu Friedensdemos -, ist das neue »rechts« ebenso undefinierbar wie die Linke. Außer dass einst klassisch linke Attribute – etwa die Freiheit: nationale Freiheitskämpfe und emanzipatorische Bewegungen galten zu Zeiten von Don Camillo und Peppone noch als links – heute den »Rechten«, also den Populisten oder »freiheitlichen« Parteien zugeschrieben wird, ebenso wie der andere linke Klassiker, der Frieden. In der EU versucht sich der rechtspopulistische Viktor Orbán gerade an einer Friedensmission im Ukrainekrieg, nur um von einem sozialdemokratischen Bundeskanzler zurückgepfiffen zu werden. Friedensfreunde sind »rechts«, Sozialdemokraten liefern Waffen: Verkehrte Welt, fast so wie beim weißen Kaninchen, dem White Rabbit, bei Alice im Wunderland …
Wo zwei sich nicht mehr streiten …
…freut sich der »bürgerliche Block«. Der »bürgerliche Block«, das ist, wenn aus dem vertikalen rechts/links als Kreidelinie zur Demarkation des politischen Spektrums eine horizontale Linie zwischen oben/unten gezogen wird. Das Frankreich unter Emmanuel Macron ist seit längerem das »Musterländle« des »block bourgeois«, wo sich nunmehr der CAC40, der französische Leitzins (rechts), und die Kaviarlinke (links) als gemeinsames »oben« dem »Frankreich, das früh aufsteht« (»la France qui se lève tôt«) gegenüberstehen. Und früh aufstehen muss nur noch das peuple, das Volk, meist auf dem Land.
Frankreich macht’s vor
Wenn »König Emmanuel« – eine angemessene Wortwahl zur Charakterisierung neo-feudaler Verhältnisse – jetzt wieder mit einer »Allianz der Mitte« durchregieren und seine neoliberalen Gesetzesprojekte umsetzen kann, dann bekommen diejenigen Wähler, die mehrheitlich entweder für die Volksfront (links) oder das Rassemblement (rechts) gestimmt haben – also nicht für die Mitte – wohl nichts von dem auf dem Wahlzettel Ersehnten: Soziale Sicherheit auf der Linken und vollständige Sicherheit vor Migration auf der Rechten, die Kernanliegen links- und rechtspopulistischer Stimmabgaben.
Gerade ist der »Block Bourgeois« in Frankeich wieder wie eine Puppe aus der Wahlurne hervorgesprungen, allen Freudentänzen über den »Front Populaire« zum Trotz. Die für die Wahlen reflexartig gebündelte Linke, der neue »Front Populaire«, schnell zusammengewürfelt von Grünen bis Kommunisten, fast ohne irgendeine programmatische Kongruenz, nur um »barrage« (einen Damm) gegen das Rassemblement zu machen, war schon zerstoben, noch bevor sich am Wahlabend der Jubel am Place de République gelegt hatte.
Während das linke enfant terrible Jean-Luc Mélenchon von La France Insoumise (man stelle sich in Deutschland eine Partei mit dem Namen »Die unbeugsamen oder die aufmüpfigen Deutschen« vor!) sich schon als Premierminister wähnte, spaltet Macron geschickt den linken wie den rechten Block, sucht Mélenchon ebenso wie das um 54 Sitze erstarkte Rassemblement Nationale als jeweils »radikale Ränder« abzuschneiden und die moderaten Elemente der beiden Blöcke – die Sozialisten (Mitte-links) und die einstigen Gaullisten, les Républikains (Mitte rechts) – für seine »Allianz der Mitte« zu vereinnahmen. Frankreichs bisherige Parlamentspräsidentin aus dem Macron-Lager ist schon wieder die neue, gewählt mit den Stimmen der Republikaner.
Premierminister Attal ist mittlerweile zurückgetreten. Frankreich, das laut einer lakonischen Le Monde Politique inzwischen von der politischen Krise beim Chaos angekommen ist, sucht händeringend einen neuen, der aber – allen Spekulationen und Hoffnungen zum Trost – ebenfalls wieder aus »der Mitte« kommen dürfte. »König Emmanuel« hat es laut Verfassung in der Hand zu entscheiden, wen er aus dem Hut zaubern möchte. Ganz allein. Dass wohl alles beim Alten bleiben wird, ist das Ergebnis der Neuwahlen in der französischen Spielart der »simulativen Demokratie«, die heute fast das Charakteristikum westlicher Staaten geworden ist. Eine linke Mehrheit für eine Rücknahme der Rentenreform, der Traum des Front Républicain, dürfte es jedenfalls nicht geben.
The code of capital
Denn – wie die Sozialwissenschaften gründlich erforscht haben: Es regiert längst The Code of Capital. Aus einstigen Republiken – egal, ob französische, bundesdeutsche oder italienische – in Zeiten der »trente glorieueses«, der dreißig Jahre zwischen 1945 und 1975, in denen Don Camillo und Peppone noch unterwegs waren, sind neoliberale, staatliche Entitäten geworden, in denen sich das Rechtsstaatlichkeitsprinzip – rule of law – verselbständigt und seine Schwester, die Sozialstaatlichkeit, weggeschubst hat. Der Republik-Begriff war und ist normativ viel weiter gefasst als pure Rechtsstaatlichkeit, auf die heute so gerne abgehoben wird. Er lässt sich im Kern mit Gemeinwohl übersetzen, eine politische Ordnung, die im Sinne eines Inter-Esse (eines »Zwischen-Sein«), also eines gesellschaftlichen Miteinanders, eine »Res Publica« (Republik) als gute Ordnung hervorbringt, die notwendigerweise nicht nur rechtsstaatlich, sondern auch sozial ist; in der, plakativ formuliert, Macht und Geld nicht vor Recht kommen. Von daher ist es kein Wunder, dass sich das sogenannte Volk, le peuple, wenn es sich gegen den »bürgerlichen Block« zur Wehr setzen möchte, oft in Parteien organisiert, die »Republikaner« heißen (z. B. in den USA, in Frankreich …), die dann aber als Populisten beschimpft werden. Dabei verteidigt, so könnte man formulieren, das Volk, le peuple, nur die Republik, die nämlich zu ihrem definitorischen Kern zählt, dass die Bürger einer Republik gleich (!) sind vor dem Recht. Wenn aber ein CumEx-Steuerbetrüger trotz erschlagender Beweise für einen Steuerbetrug von rund 280 Millionen Euro vor Gericht nicht belangt wird, während eher harmlose Kleinverbrecher bei Ladendiebstahl – wie zuletzt eine 84-Jährige in München – wegen eines Diebstahls von 70 Euro für drei Tage in den Knast müssen, ist das Verständnis von »Gleichheit vor dem Recht« (auch) in der heutigen Bundesrepublik ganz augenscheinlich aus den Fugen. Der »bürgerliche Block« hat die Macht, sich dem Recht zu entziehen, nur die Kleinen werden gefangen.
Mit Republik gemeint ist also ein ursprünglicher Zustand, in dem die politische Macht von der ökonomischen Macht getrennt ist; in dem der ökonomisch Mächtige nicht gleichsam natürlich oder automatisch auch die politische Macht übernehmen kann oder umgekehrt: in dem mit der politischen Macht nicht formal auch die ökonomische Macht verbunden ist. Möge der König dafür sorgen, dass nicht zu viel Geld in die Stadt kommt, denn es wird den Bürgern nicht guttun, so etwa konnte Platon in der Politeia noch schreiben. In Zeiten von CumEx ist es damit vorbei. Das Kapital hat den Staat längst verschlungen, wie Hegel es vorausgesagt hat. Dass in letzter Konsequenz Recht – dem sich alle Bürger der Republik gleich zu unterwerfen haben – käuflich geworden ist, bringt der englische Begriff Law Firm sinnbildlich zum Ausdruck, ganz anders als der der Anwaltskanzlei, die Anwalt des Rechts, nicht ihr Käufer ist.
Der Rest des »Ausverkaufs der Republik« geschah durch globale Konzentrations- und Zentralisierungsprozesse, gegen die keine klassische Linke, selbst wenn es sie heute noch gäbe, auf nationaler Ebene ankäme.
In dem lustigen Roman »The Circle«, schon ein paar Jährchen alt, wird dieser Prozess der Übernahme des Staates durch (digitale) Konzerne und der Übergang in den »Überwachungskapitalismus« (Shoshana Zuboff) vorweggenommen. Am Ende führt der fiktive Digitalkonzern (der die Geschäftsfelder von Google, Apple, Facebook und Twitter geschluckt hat, indem er alle Kunden mit einer einzigen Internetidentität ausstattet) die Wahlen durch, weil die Wahlregister der Regierung nicht mehr up to date sind und der Konzern die bessere Software hat. BlackRock, Amazon und Google sind heute das neue Trio von »Staatlichkeit«, ohne sie geht gar nichts mehr.
Längst wird an rechtlichen Fusionsstrukturen gearbeitet, in denen der CEO zugleich Bürgermeister wird, in denen sich die Reichen über share holder value in die »Company-Stadt« einkaufen, ihre Schulen, Kindergärten und Schwimmbäder bekommen, während das Gesindel vor der Stadt bleibt – und die Städter demnächst wohl wieder die Zugbrücke hochziehen. Alles aus dem Mittelalter bekannt.
Vom Adel zum Parvenü
Nach über 500 Jahren europäischer Geschichte sind wir also wieder am Ausgangspunkt und rückabwickeln die Republik, jene Sternstunde der Menschheit von 1789, als die Französische Revolution aus Untertanen Bürgern machte. Der zentrale Unterschied zwischen einstigem Feudalismus und post-modernem Neo-Feudalismus scheint nur darin zu liegen, dass der Adel Geld, Geist und Geschmack hatte – die Medici zum Beispiel haben wunderschöne Paläste hinterlassen und die bildende Kunst gefördert – während hingegen die Parvenüs und heutigen Oligarchen eher in Fußballclubs und Botox investieren und mit der Jogging Hose in der 1. Klasse im Flieger sitzen. C’est la classe qui perds de sa classe …
Wo der Luxus ins Unendliche steigt, »da ist auch die Not und Verworfenheit auf der anderen Seite ebenso groß«, schrieb Hegel schon in der Philosophie des Rechts. Wenn also oben gegen unten regiert – »this is a war of capital against labor and we will win it«, sagte Warren Buffet schon vor einer Dekade – dann muss man sich nicht wundern, wenn das Volk sich wehrt, und das tut es derzeit in allen westlichen Staaten.
Der neue Faschismus und die »extremisierte Mitte«
Gemeint mit Volk sind die left behinds, das over fly country oder einfach die Landbevölkerung, jene Unsichtbaren, das Volk also, das in ruhigen Zeiten in der parlamentarischen Demokratie immer nur als abstrakte Größe vorkommt, sich aber zum Mob geriert, wenn es das Gefühl hat, zum Narren gehalten zu werden: man lausche dem Text des »Narrenschiffes« von Reinhard Mey, ein Lied schon aus den 1970er Jahren. Wenn das Volk als »Sozialprotest« auf die Straße geht – als Bauer mit Traktor oder mit gelber Weste (»Gilet Jaunes«) – dann ist das Volk natürlich »rechts« und eine geistig verarmte, postideologische Linke hilft dem »bürgerlichen Block« dabei, jeden und jede als »rechts« zu framen, der oder die nicht woke, klimahysterisch, pro-Ukraine, pro-Impfung und pro-Migration ist: #allegegenrechts. Und die postideologische Linke, die erste staatstreue Antifa, die erste außerparlamentarische Linke in der Geschichte der Linken, die nicht herrschafts- und kapitalkritisch ist, ist sich nicht zu schade, mit dem »bürgerlichen Block« im Sinne eines »bürgerlichen Wir« (siehe das Buch von Bundespräsident Steinmeier!) ganz im Stil autoritärer Systeme Claqueure für ihre #allegegenrechts-Demos auf die Straße zu schicken, und so ganz und gar undemokratisch einen Teil der Gesellschaft – das gemeine Volk, das die Republik retten möchte, aber als populistisch beschimpft wird – auszuschließen und mithin die Erosion der Demokratie zu befördern.
Die ideologisierten, pseudo-linken Diskurse werden inzwischen als alternativlos gesetzt und mit auf Dauer geschalteter »Notstandsgesetzgebung« (Ausnahmezustand Corona, Kriegsrecht Ukraine…) begleitet, wobei die Linke schamlos offenlegt, dass sie den Tugendpfad der kritischen Theorie verlassen hat. Konnte Adorno noch formulieren, weil das, was ist, sich ändern kann, ist das, was ist, nicht alles, so ist in Zeiten der apodiktischen Postideologie alles festgefahren: Impfen, Waffen, Windmühlen, Sternchen und sonst gar nichts. Wer Zahlen kritisiert oder nur den Finger hebt, ist »rechts«, »Putinversteher«, Verschwörer, Leugner, und mithin out-lawed. Auch dieses Wort zeigt wunderbar die neue Liebelei zum »bürgerlichen Block«, der entscheidet, für wen das Recht noch gilt und für wen nicht (outlawed), wobei die postideologische Linke die dazugehörigen Legitimationsdiskurse für den Rauswurf erfindet. Als Demonstrationen erlaubt sind nur pro-Klima, pro-Queer, pro-Identitätspolitik, pro-Verkehrsberuhigung, pro-Veganismus …
Kurz: Kapitalismus vs. Faschismus ist das neue politische Paradigma. Da letzterer nicht sein darf, darf ersterer nicht kritisiert werden, was zu tun einst die wichtigste Aufgabe der Linken war. Das ist die Falle, in die die Linke getappt ist: Sozial, geschweige denn Sozialismus war gestern. Die Linke hat keine Wahl mehr: sie muss zum Adjutanten des Kapitals werden, um den vermeintlichen Faschismus abzuwehren, den sie »rechts« wähnt, der aber auf Seiten der »extremisierten Mitte« zu suchen ist, nämlich genau im »bürgerlichen Block«: die Ampel in Deutschland, die »Allianz der Mitte« in Frankreich usw. Die postideologische Linke hat sich entschieden, den ihr ideologisch fremden Liberalismus um jeden Preis gegen das aufbegehrende Volk, le peuple, die Populisten durchzusetzen, und lieber die Republik zu verraten, als »rechts« zu sein. Intellektuelle Dummheit muss bestraft werden …