In seinem Buch »Martin Walser. Der Romantiker vom Bodensee« unternimmt Jochen Hieber den Versuch, das gesamte Schaffen Martin Walsers sozusagen aus dem Geiste der Romantik zu erklären. Das ist legitim und wirft durchaus ein neues Licht auf den nun hochbetagt verstorbenen »Großschriftsteller«. Dass er es war, vielleicht der letzte, den dieses Land hervorgebracht hat, unterliegt wohl keinem Zweifel, erst recht nicht, wenn man Hiebers Buch gelesen hat. Auch die Verkettung des Walser’schen Schaffens mit der Romantik wird präzise, überzeugend und instruktiv vorgeführt, wenngleich der Verfasser das dritte Kapitel, in dem das »Romantische an Walser« luzid dargelegt wird, mit der Einräumung beginnt: »Walser in die Tradition romantischer Reflexion und Empfindung zu stellen, mag auf den ersten Blick befremdlich erscheinen.«
In fünf essayartigen Abhandlungen erschließt Jochen Hieber das »Romantische« an Martin Walser und kommt zu folgendem Urteilspruch, den man sich durchaus auf der Zunge zergehen lassen kann: »In der Summe ist dieser Romantiker vom Bodensee ein Halbromantiker aus dem Geist der Aufklärer, ein säkularer Epiphaniker, ein spätironischer Fichte-Jünger und ein anarchischer Träumer auf realistischem Grund.« Ei der Daus, Halbromantiker! Und dies, nachdem festgestellt wurde, und zwar mit Bezug auf Walsers 2018 erschienenen Roman »Gar alles oder Briefe an unbekannte Geliebte«, dass mehr Romantik gar nicht gehe. Und zwar, weil hier im Sinne Novalis‘ romantisiert werde. Zur Erinnerung: Indem man dem Gemeinen hohen Sinn, dem Gewöhnlichen geheimnisvolles Ansehen, dem Endlichen unendlichen Schein verleiht und Bekanntes als Unbekanntes ausgibt. Dies ist gewiss für Walsers Werk, besonders das epische, zutreffend.
Es ist ein großer Vorzug des Buches, dass Jochen Hieber es ermöglicht, seinen persönlichen Bezug zum Autor Martin Walser zu begreifen. Das verleiht den Passagen über die von der Literaturszene und der sogenannten Öffentlichkeit als »problematisch« empfundenen oder gar skandalisierten Texte (»Tod eines Kritikers«, Rede zur Friedenspreisverleihung) eine hohe Überzeugungskraft. Auch, weil die Ungereimtheiten und Widersinnigkeiten dieser Streitereien und Debatten aufgezeigt werden, weil der Autor klare Positionen bezieht und sie begründet. Dazu gehört, was äußerst sympathisch ist, dass er seine Walser-Vorlieben ebenso benennt wie seine Walser-Ablehnungen, etwa die Muttersöhnchen-Figur Alfred Dorn in »Verteidigung der Kindheit«.
Wunderbar zu lesen sind die Passagen im zweiten Kapitel über den Beginn seiner Beschäftigung mit Walser als Ergebnis eines Schülerjobs. Dem Dreizehnjährigen war 1964 von einer Buchhändlerin angeboten worden, einmal in der Woche in ihrem Geschäft auszuhelfen. Fast wehmütig wird man, wenn man liest, wie Bücher einst Leben prägten, Lebensläufe eröffneten, weil eben Böll, Dürrenmatt, Frisch, Grass zu erlangen waren, weil der Junge einen Vierzeiler von Ingeborg Bachmann unter ein Poster der Rolling Stones kleben konnte. Wenn man 1964 vierzehn war und wie ich in einem in der DDR gelegenen Internat lebte, dann waren die Bücher jener Autoren so gut wie unerreichbar, und das Kleben von Rolling-Stones-Plakaten unterließ man besser, wenn einem das angestrebte Abitur lieb war.
Ist das heute noch wichtig? Ja! Weil Jochen Hieber sehr schön aufzeigt, wie Walsers »Geschichtsgefühl« (hergenommen von Johann Gottlieb Fichte) ihn davor bewahrte, Deutschland als Ganzes zu vergessen, zu übersehen, dass es eine DDR gab. Die Grenze zwischen den beiden Staaten in Deutschland hielt er für eine Blödheit. Der in der DDR als Beinahe-Sozialist geführte Franz Xaver Kroetz hingegen ließ vernehmen, dass ihm dieses Land so fremd wie die Mongolei sei. Hingegen musste sich Walser in der im Aufbau-Verlag Berlin und Weimar 1975 erschienenen Ausgabe »Fiction / Die Gallistl’sche Krankheit« vom mit Marx und im Namen des Kommunismus argumentierenden Nachwortautor Heinz Plavius sagen lassen: »Manches, was Walser vor zwei bis drei Jahren über die DDR gesagt hat (…), interessiert durch die Entwicklung nach dem VIII. Parteitag lediglich noch historisch.«
Es ist gut, dass sich Walser, Romantik hin, Romantik her, von derartigen Bekundungen nicht hat beirren lassen, dass ihn die dann doch erreichte deutsche Einheit beglückt hat. Seltsam ist, dass Martin Walser dennoch kaum als ein gesamtdeutscher Autor wahrgenommen wird, eher als ein »westdeutscher«. Wobei das auch wieder nicht stimmt, denn man müsste dann »südwestdeutscher Autor« sagen und würde sich lächerlich machen. Nein, es ist an der Zeit, Walser zu begreifen als den Autor, der die Deutschen trefflich zeigt: »Du siehst ja wieder aus wie ein Boutiquensozialist«, sagt jemand im Roman »Die Gallistl’sche Krankheit«. Walser hatte den Mut, zu als unpassend empfundener Zeit das Unangenehme auszusprechen; er scheute weder die Geschmacklosigkeit noch das harte Urteil, wenn er Wahres über sein Land und dessen Bewohner sagen wollte. In diesem Sinne ist er ein seltener deutscher Autor.
Diesen Eindruck bestärkt auch das Buch von Jochen Hieber. Wer sich wieder oder überhaupt einmal mit Martin Walser beschäftigen will, der trifft mit diesem Buch eine gute Wahl. Sein Verfasser bleibt immer nah bei Walser, beurteilt ihn, verurteilt ihn nicht, er zeigt, wo Leser fündig werden können, wo sie vielleicht vorsichtig werden sollten – und dies geschieht aus genauer Kenntnis von Autor und Werk, und zwar mit der gebührenden Distanz-Sympathie betrachtet. Da der Autor, was hier völlig legitim ist, auch von sich spricht, liest man eine Literaturgeschichte, von der Romantik ausgehend, eine Historie seiner Lebens- und Arbeitsjahre – und in der Hauptsache eine profunde Walser-Analyse.
Jochen Hieber: Der Romantiker vom Bodensee, wbg Theiss, 2022, 304 S., 29 €.