Dudows letzte Regiearbeit
Vor 60 Jahren verlor die DDR ihren berühmtesten Filmregisseur, Slatan Dudow, geboren 1903. Man dürfte zumindest seinen »proletarischen« Pionierfilm Kuhle Wampe oder Wem gehört die Welt? von 1932 kennen. Später, nach dem Exil in Frankreich und der Schweiz, ging der bulgarisch-stämmige, mit Brecht befreundete Kommunist nach Ostberlin und drehte für die in Babelsberg ansässige DEFA. Er war erst 60, als er eines feierabends unfallweise zu Tode kam. Hat ihn am Ende just die DEFA auf dem Gewissen, wie der Journalist und Filmexperte Ralf Schenk zu glauben scheint?
Im Sommer 1963 drehte Dudow im östlichen Brandenburg auf einem Gutshof Szenen seines Streifens Christine, der unvollendet bleiben sollte. Der Drehort, wohl Heinersdorf, lag bei Fürstenwalde/Spree. Ebendort hatte der 60-Jährige am frühen Morgen des 12. Juli 1963 einen tödlichen Autounfall. Einzelheiten nennt, soweit ich sehe, niemand. Schenk erläutert aber (in Filmdienst 14/2003)* immerhin, Dudow sei nach den anstrengenden Dreharbeiten »auf dem Weg nach Berlin« gewesen – »und weil die DEFA-Direktion ein paar Monate zuvor aus Sparsamkeitsgründen beschlossen hatte, personengebundene Chauffeure auf ein Minimum zu reduzieren, lenkte er seinen Wagen selbst. Neben ihm, dem vor Müdigkeit immer wieder die Augen zufielen, saß seine Hauptdarstellerin Annette Woska. Sie überlebte den Crash, lag Wochen im Koma, erfuhr auch danach lange nicht vom Tod ihres Regisseurs.«
In einem Porträt für den gleichsam amtlichen Sammelband Die erste Stunde** über frühe führende DDR-Revolutionäre liest sich die Sache anders. Es stammt vom prominenten Drehbuchautor Wolfgang Kohlhaase. Danach war Dudow am Lenkrad eingeschlafen. Dies aber mitnichten auf dem Weg nach Berlin (gen Westen), vielmehr nach seinem recht nahen Häuschen in Saarow am Scharmützelsee, der südlich von Fürstenwalde liegt. Der Regisseur hatte dort eine Datscha, die er vor allem im Sommer gern nutzte. Mit »seiner Familie«, wie Kohlhaase reichlich unbestimmt formuliert, wohnte er in Berlin-Pankow. Beide Domizile waren anscheinend nur gemietet. Aber der »blaue Mercedes«, von dem Kohlhaase spricht, war zweifelsfrei Dudows Privateigentum. Zum Umgang mit dieser Limousine aus dem Westen teilt der Filmautor Einzelheiten mit. Zunächst sei sie von einem Fahrer gesteuert worden, den die DEFA stellte, dann von einem, den der Starregisseur aus eigener Tasche bezahlte. Schließlich habe er sich jedoch in den Kopf gesetzt, sie eigenhändig zu fahren. Er machte also den Führerschein und erfreute sich daran. Einen harmlosen Unfall, bei dem er im Winter gegen eine mit Streusand gefüllte Kiste fuhr, nahm der vierschrötige, untersetzte, wuchtige Filmkünstler offensichtlich auf die leichte Schulter. Dann kam der verhängnisvolle Julitag 1963. Kohlhaase poetisiert: »Der Tod hat sich hinter einen Baum gestellt, um ihn zu erwarten.« Der Sensenmann war schuld.
Die von Schenk bemühte anrührende Geschichte von der arglistigen DEFA verschmähte Kohlhaase. Überdies verzichtet er aber nicht nur auf Andeutung der örtlichen Verkehrslage – er übergeht sogar die im Koma gelandete Beifahrerin Dudows. Woska kommt bei ihm nicht vor. Das ist schon ein dickes Ding.
Theater- und Filmstar Angelica Domröse, geboren 1941, hatte als 17-Jährige ihren ersten Film unter Dudows Leitung gespielt. In ihren 2003 im Lübbe-Verlag erschienenen Erinnerungen*** bestätigt sie Kohlhaases Sicht auf den blauen Mercedes und Dudows Begierde, ihn unter seine Lenkrad-Regie zu zwingen. Sie behauptet zudem, der alternde Filmregisseur, der (laut Kohlhaase) schon immer zu Sarkasmus, Aufbrausen und Sturheit neigte, sei wiederholt durch die Führerschein-Prüfung gefallen. Aber darauf will ich nicht herumreiten. Eine recht befremdliche Tatsache erblicke ich zum einen darin, dass auch Domröse, wie Kohlhaase, ihre Geschlechts-, Alters- und Berufsgenossin Annette Woska kaltblütig unter den Tisch fallen lässt. Sie scheint sie nicht zu kennen – obwohl sie mit Kohlhaase befreundet war, der jede Wette um die Rolle Woskas als Beifahrerin wusste. Nebenbei ist Woska auch im Internet nahezu unbekannt; noch nicht einmal die Lebensdaten sind zu haben. Wikipedia erwähnt lediglich, aufgrund ihrer schweren Verletzung bei dem Unfall habe sie »lange Zeit nicht filmen« können. Später, nach ihrer Heirat mit dem Regisseur Dieter Roth, habe sie jedoch, nun als Anette Roth, noch in mehreren DEFA-Filmen mitgewirkt. Wo sie zur Zeit von Christine wohnte, verrät kein Mensch. Vielleicht ruhte sie sich zumindest streckenweise in der Datscha am Scharmützelsee auf dem Eisbärenfell aus. Man erfährt auch nicht, ob sie mit Dudow möglicherweise vor Fahrtantritt ein paar Gläschen Sekt auf das Ende der anstrengenden Dreharbeiten geleert hatte. Falls es Pressemeldungen gab, sind sie mir nicht zugänglich. Erfahrungsgemäß kein Verlust.
Halten wir uns an die Literatur. Nach Ausweis ihres wenig empfehlenswerten Buches schätzte Angelica Domröse, neben dem Alkohol, insbesondere Katzen, Uhren – und Autos. Zeitweise fuhr sie einen roten Fiat-Sportwagen, dann einen weißen Porsche. Von den vielen VEB- oder LPG-Arbeiterinnen, die Domröse von den Kinosesselreihen her anhimmelten, einmal abgesehen, konnten selbst zwei deftige Autounfälle ihre Vernarrtheit nicht verscheuchen. Einen baute ihr erster Ehegatte Jiri Vrstala, ein Clown. Den anderen hatte sie selber als Beifahrerin eines DEFA-Chauffeurs. Sie lag Wochen im Krankenhaus. Ob und wie jeweils Dritte zu Schaden kamen, geht aus ihren Erinnerungen nicht hervor. Vielleicht hatten die Dritten zufällig mehr Glück als Woska. Als das Lübbe-Buch entstand, um 2000, fuhr Domröse einen Mini-Cooper.
Denke ich ganz allgemein an den nachäffenden Wahnsinn der Verkehrspolitik der SED, könnte ich ebenfalls zum Alkoholiker werden. 2003 zog ich nach Thüringen. Als ich damals durch Städte wie Eisenach oder Mühlhausen ging, kam ich aus dem Kopfschütteln gar nicht mehr heraus. Während sich die Linienbusse im Wettstreit mit den modischen, breitmäuligen »Gelände«-Limousinen durch die engen Gassen zwängten, sah ich hier und dort noch einasphaltierte Straßenbahnschienen aufblinken. Am liebsten hätte ich mich verzweifelt hingeworfen und meine Zähne in die stillgelegten Schienen geschlagen. Diesen Schwenk vom spurtreuen Massenverkehr zur verstärkten Automobilisierung nahmen die ostdeutschen »Sozialisten« in den 1970er Jahren freiwillig, ja mit Begeisterung vor! Da war Dudow gerade erst angefault.
* Ralf Schenk: Artikel in Filmdienst 14/2003, präsentiert auf https://www.defa-stiftung.de/defa/publikationen/artikel/142003-der-mann-der-kuhle-wampe-drehte/.
** Die erste Stunde, Hrsg. Fritz Selbmann, Lizenzausgabe im Buchclub 65, Ostberlin 1969.
*** Ich fang mich selbst, aufgeschrieben von Kerstin Decker, Gustav Lübbe Verlag 2003.