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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Verlorene Mitte

Dia­lo­ge wie die­se ken­ne ich. Gesprä­che wie die­ses habe auch ich geführt.

»Ach, Coro­na! Kön­nen die Medi­en auch mal über was ande­res berich­ten? War­um wird da jetzt so eine Panik geschürt?«
»Na ja, über­all in Euro­pa ster­ben Menschen …«
»Und wie­so wur­de nie ein Auf­he­bens um die 20 000 gemacht, die zum Bei­spiel 2018 an der Grip­pe starben?«
»Weil das hier ein völ­lig neu­es Virus ist, das sich rasend schnell ver­brei­tet und gegen das wir alle kei­ne Immun­ab­wehr haben. Du glaubst doch nicht etwa auch, das sei alles erfunden?«
»Nein, aber die­se Sta­ti­sti­ken. Ich habe da mei­ne Zweifel.«
»Okay. Tragt ihr wenig­stens Maske?«
»Müs­sen wir ja.«
»Viel­leicht kommt ja bald die Impfung.«
»Ach, die Imp­fung! Du weißt ja, wer davon profitiert…«
»Die Phar­ma­kon­zer­ne? Sag mal, glaubst du eigent­lich an gar nichts mehr?«
»Nein. Ich glau­be an fast gar nichts mehr.«

Die ZEIT-Jour­na­li­stin Ani­ta Blas­berg hat die­ses Tele­fo­nat mit ihrer Mut­ter zum Anlass genom­men, um sich auf Spu­ren­su­che zu bege­ben, um zu ergrün­den, »war­um nicht nur mei­ner Mut­ter das Ver­trau­en in unser Land abhan­den­kam«. Die Ergeb­nis­se ihrer Recher­chen hat sie in ihrem Buch »Der Ver­lust« beschrie­ben. Das Tele­fon­ge­spräch ist dort abgedruckt.

Blas­berg zählt ihre Mut­ter nicht zu den Quer­den­kern, noch habe sie jemals mit der AFD sym­pa­thi­siert. Im Gegen­teil, ihre Mut­ter habe frü­her ziem­lich oft SPD gewählt, spä­ter auch die Grü­nen, und sie habe Hel­mut Schmidt bewun­dert und ver­traut. Inzwi­schen aber habe sie das Ver­trau­en in das gute Wol­len der Poli­tik ver­lo­ren, befürch­te sogar, dass die­se ihr Böses wol­le, und sage, sie wer­de »das Gefühl nicht los, dass man die Bevöl­ke­rung künf­tig kon­trol­lie­ren möch­te«. Jetzt ver­traue ihre Mut­ter »vor allem Blogs wie den Nach­denk­sei­ten, für die Jour­na­li­sten wie ich zum ver­blen­de­ten Main­stream gehö­ren«, schreibt Blasberg.

Vier Tage lang hat­te die Autorin mit ihrer Mut­ter gespro­chen, weil sie eru­ie­ren und begrei­fen woll­te, »in wel­chen Momen­ten ihr Ver­trau­en gelit­ten hat­te, wovon es beson­ders stra­pa­ziert wor­den war, war­um es schließ­lich umge­schla­gen war in Miss­trau­en«, denn: »Mei­ne Mut­ter heg­te schon lan­ge den Ver­dacht, dass es der Poli­tik nicht mehr um die Men­schen gin­ge, son­dern vor allem um die Wirtschaft.«

Blas­berg fand »die neur­al­gi­schen Punk­te« und begann ihre Spu­ren­su­che mit dem Jahr 1990, dem Jahr der Abwick­lung der DDR und der »Gro­ßen Ent­eig­nung«, wie Ossietzky-Mit­her­aus­ge­ber Otto Köh­ler sein 1994 erst­mals erschie­ne­nes Stan­dard­werk nann­te, in dem er dar­leg­te, »wie die Treu­hand eine Volks­wirt­schaft liqui­dier­te«. 1990 war auch das Jahr, in dem »sich Ossis über Wes­sis noch Illu­sio­nen« mach­ten und »schon das Fra­gen allein eine kom­mu­ni­sti­sche Frech­heit« war (Köh­ler). Blas­berg trifft einen frü­he­ren Treu­hand­ma­na­ger, lässt sich von ihm berich­ten, wie er als 29-Jäh­ri­ger zum Rekord­ver­käu­fer wur­de, weil er 80 ost­deut­sche Betrie­be in zwei Jah­ren ver­kauf­te, gemäß der offi­zi­el­len Ziel­vor­ga­be: Alles muss raus.

Damals erhielt das Ver­trau­en der Mut­ter in die Poli­tik »erste Ris­se«. Sie war »vol­ler Neu­gier« durch die neu­en Bun­des­län­der gefah­ren, hat­te über reno­vier­te Häu­ser und fun­keln­de Dächer gestaunt. »Aber den Men­schen, die sie traf, ging es schlecht. Auch ihr Cou­sin im Harz war inzwi­schen arbeits­los gewor­den. In Eisen­ach sah sie, dass die klei­nen Geschäf­te in der Innen­stadt mit Bret­tern zuge­na­gelt waren, dass aber auf der ›grü­nen Wie­se‹ rie­si­ge Ein­kaufs­cen­ter wuch­sen.« In jeder von ihr besuch­ten ost­deut­schen Stadt ent­deck­te sie neue Dou­glas-Filia­len. Es herrsch­te Gold­grä­ber­stim­mung. »Sehr bald emp­fand sie das Gan­ze nicht mehr als Wie­der­ver­ei­ni­gung, son­dern als Ein­ver­lei­bung.« »The Win­ner Takes It All«, hat Blas­berg die­ses Kapi­tel überschrieben.

Die Rei­se geht wei­ter. Ani­ta Blas­berg trifft den frü­he­ren Vize­kanz­ler Franz Mün­te­fe­ring und Sabi­ne Chri­sti­an­sen, deren Talk­show die Mut­ter schon lan­ge nicht mehr anschaut. Sie spricht in Frank­furt mit einem Invest­ment­ban­ker, in Bochum mit der Stadt­käm­me­rin Eva-Maria Hub­bert und in Ber­lin mit dem Mini­ste­ri­al­be­am­ten Chri­sti­an Kastrop, der die Schul­den­brem­se erfun­den hat. In Hal­le trifft sie die tech­ni­sche Zeich­ne­rin Gabrie­le Geb­hardt und den 50-jäh­ri­gen Mau­rer Kal­le Weni­ger, der als Hartz-IV-Bezie­her monat­lich 331 Euro erhält: »Fünf­zehn Jah­re war er nun Bür­ger im neu­en Land. Aber alles, was es ihm zu geben hat­te, glaubt er, sei Ver­ach­tung. (…) Um die Bür­ger, glaubt er, gehe es den Regie­ren­den schon lan­ge nicht mehr. So wie mehr als jeder zwei­te im Osten ver­traut er noch nicht mal mehr dar­auf, dass alle vor dem Gesetz gleich sei­en.« Eine Denk­wei­se, der sich Blas­bergs Mut­ter mehr und mehr annäherte.

Hat­te sie den Staat bis in die Neun­zi­ger­jah­re hin­ein als »wohl­wol­lend und freund­lich» emp­fun­den, so war er jetzt für sie »miss­trau­isch, for­dernd und harsch« gewor­den. Immer neue Nach­weis­pflich­ten habe er erfun­den, sagt sie, immer neue Sank­tio­nen: alles Fol­gen der Agen­da 2010, die Kanz­ler Ger­hard Schrö­der am 14. März 2003, vor 20 Jah­ren also, in sei­ner Regie­rungs­er­klä­rung ver­kün­det hat­te. Blas­berg: »Doch wäh­rend ihre öko­no­mi­sche Wir­kung wohl nie rest­los zu klä­ren sein wird, so ist eines sicher: Sie hat unge­wollt etwas ganz ande­res ver­än­dert – die Bezie­hung vie­ler Deut­scher zu ihrem Staat.« Zu die­sen Men­schen gehör­te auch Blas­bergs Mutter.

Wei­te­re Sta­tio­nen der kri­ti­schen Aus­ein­an­der­set­zung mit dem Agie­ren »der Poli­tik« sind die Welt­fi­nanz­kri­se ab 2007, in der in meh­re­ren Staa­ten, so auch in Deutsch­land, Ban­ken mit Mil­li­ar­den Euro an Steu­er­gel­dern geret­tet, die Ver­lu­ste aber sozia­li­siert wur­den. Die Kre­dit­in­sti­tu­te waren Too big to fail, ein kapi­ta­li­sti­sches Axi­om, das auch heu­te noch gilt, wie es gera­de aktu­ell in der Schweiz die hek­ti­sche Ret­tungs­ak­ti­on für die Groß­bank Cre­dit Sui­s­se gezeigt hat. 2009 folg­te die Euro­kri­se, in der sogar die Insol­venz von Staa­ten droh­te, bei­spiels­wei­se Grie­chen­lands. Finanz­ka­pi­ta­lis­mus pur, von der Moral gelö­ste Märk­te: »Heu­schrecken« hat­te sie Mün­te­fe­ring ein­mal genannt. Der Ein­satz von Was­ser­wer­fern gegen Demon­stran­ten, die gegen das Bahn­hofs­pro­jekt Stutt­gart 21 pro­te­stier­ten, das anhal­ten­de  welt­wei­te Schnecken­tem­po bei der Bekämp­fung der Erd­er­wär­mung, die NSU-Mor­de und die Fra­ge, ob da staat­li­che Insti­tu­tio­nen nicht auf dem rech­ten Auge blind gewe­sen sind, das Aus­ein­an­der­drif­ten von Reden und Han­deln, sei es in der Gesund­heits-, sei es in der Bil­dungs­po­li­tik, und schließ­lich die Coro­na-Pan­de­mie mit den staat­lich ver­ord­ne­ten Ein­schrän­kun­gen bis in die eige­nen vier Wän­de hin­ein und den teils ver­wir­ren­den, teils wider­sprüch­li­chen Beschlüs­sen: Dies alles ließ eine Saat der Unru­he bis in die Mit­te der Gesell­schaft vor­drin­gen. Ani­ta Blas­berg hat in ihrem Buch den Pro­zess am Bei­spiel ihrer Mut­ter beschrieben.

*

Aller­dings: Zur gei­sti­gen Situa­ti­on der heu­ti­gen Zeit gehört mei­nes Erach­tens auch, dass wir Bür­ge­rin­nen und Bür­ger ler­nen müs­sen, sowohl mit Unsi­cher­heit als auch mit Unge­wiss­heit umzu­ge­hen. Und eher der Wis­sen­schaft als einem Blog zu ver­trau­en. Vie­les in Staat und Gesell­schaft ist allen Miss- und Wider­stän­den zum Trotz wei­ter­hin intakt.

Die Frie­dens­for­sche­rin Ursu­la Schä­fer, Wis­sen­schaft­li­che Direk­to­rin des Insti­tuts für Frie­dens­for­schung und Sicher­heits­po­li­tik an der Uni­ver­si­tät Ham­burg, des­sen Direk­tor der uns gera­de heu­te sehr feh­len­de Ent­span­nungs­po­li­ti­ker Egon Bahr von 1984 bis 1994 war, for­mu­lier­te es kürz­lich so in einem Pod­cast für das Ham­bur­ger Abend­blatt: »Eine sol­che Dich­te an Kri­sen und Kata­stro­phen, wie wir sie gera­de erle­ben, gab es in den ver­gan­ge­nen 80 Jah­ren nicht. Die gro­ße Fra­ge ist, wie man den Bür­gern erklärt, was der Plan der Regie­rung ist. Und dabei kön­nen wir lei­der nicht mehr in die Ver­gan­gen­heit gucken, um zu ver­ste­hen, wie es wei­ter­geht.« Dies kann als Auf­for­de­rung an die Bun­des­re­gie­rung, vor allem aber an den Bun­des­kanz­ler ver­stan­den werden.

»Auch wenn man es nicht sieht,« schreibt Blas­berg, »so wird unser Land von einem gro­ßen Netz des Ver­trau­ens zusam­men­ge­hal­ten. Eini­ge (…) Men­schen ris­sen Löcher in sein Gewe­be, ande­re fie­len hin­ein, man­che ver­such­ten ver­zwei­felt, die Löcher zu flicken, ande­re sahen nur zu. [Das Buch] ist der Ver­such, ihre Geschich­ten zusam­men­zu­fü­gen. Um den Ver­lust zu ver­ste­hen. Aber auch um zu begrei­fen: Was müss­te eigent­lich gesche­hen, um das Ver­trau­en wie­der­her­zu­stel­len?« Ihre Ant­wort: »Ohne Kampf wird es nicht gehen. Es wird an jedem ein­zel­nen lie­gen, den Druck zu erhö­hen. Damit sich etwas ändert.«

Der letz­te Satz in dem Buch lau­tet: »Mit reden, den­ke ich plötz­lich, müss­ten wir anfan­gen.« Sie meint damit: mit­ein­an­der und zuein­an­der reden. Kom­mu­ni­zie­ren. Als ver­trau­ens­bil­den­de Maß­nah­me, wür­de Egon Bahr viel­leicht sagen. Um die ver­lo­re­ne Mit­te zurückzugewinnen.

 Ani­ta Blas­berg: Der Ver­lust. War­um nicht nur mei­ner Mut­ter das Ver­trau­en in unser Land abhan­den­kam, Rowohlt 2022, 328 S., 23 €. – »Die gro­ße Ent­eig­nung. Wie die Treu­hand eine Volks­wirt­schaft liqui­dier­te« von Otto Köh­ler ist 2011 in einer erwei­ter­ten Neu­auf­la­ge im Ver­lag Das Neue Ber­lin erschienen.