Dialoge wie diese kenne ich. Gespräche wie dieses habe auch ich geführt.
»Ach, Corona! Können die Medien auch mal über was anderes berichten? Warum wird da jetzt so eine Panik geschürt?«
»Na ja, überall in Europa sterben Menschen …«
»Und wieso wurde nie ein Aufhebens um die 20 000 gemacht, die zum Beispiel 2018 an der Grippe starben?«
»Weil das hier ein völlig neues Virus ist, das sich rasend schnell verbreitet und gegen das wir alle keine Immunabwehr haben. Du glaubst doch nicht etwa auch, das sei alles erfunden?«
»Nein, aber diese Statistiken. Ich habe da meine Zweifel.«
»Okay. Tragt ihr wenigstens Maske?«
»Müssen wir ja.«
»Vielleicht kommt ja bald die Impfung.«
»Ach, die Impfung! Du weißt ja, wer davon profitiert…«
»Die Pharmakonzerne? Sag mal, glaubst du eigentlich an gar nichts mehr?«
»Nein. Ich glaube an fast gar nichts mehr.«
Die ZEIT-Journalistin Anita Blasberg hat dieses Telefonat mit ihrer Mutter zum Anlass genommen, um sich auf Spurensuche zu begeben, um zu ergründen, »warum nicht nur meiner Mutter das Vertrauen in unser Land abhandenkam«. Die Ergebnisse ihrer Recherchen hat sie in ihrem Buch »Der Verlust« beschrieben. Das Telefongespräch ist dort abgedruckt.
Blasberg zählt ihre Mutter nicht zu den Querdenkern, noch habe sie jemals mit der AFD sympathisiert. Im Gegenteil, ihre Mutter habe früher ziemlich oft SPD gewählt, später auch die Grünen, und sie habe Helmut Schmidt bewundert und vertraut. Inzwischen aber habe sie das Vertrauen in das gute Wollen der Politik verloren, befürchte sogar, dass diese ihr Böses wolle, und sage, sie werde »das Gefühl nicht los, dass man die Bevölkerung künftig kontrollieren möchte«. Jetzt vertraue ihre Mutter »vor allem Blogs wie den Nachdenkseiten, für die Journalisten wie ich zum verblendeten Mainstream gehören«, schreibt Blasberg.
Vier Tage lang hatte die Autorin mit ihrer Mutter gesprochen, weil sie eruieren und begreifen wollte, »in welchen Momenten ihr Vertrauen gelitten hatte, wovon es besonders strapaziert worden war, warum es schließlich umgeschlagen war in Misstrauen«, denn: »Meine Mutter hegte schon lange den Verdacht, dass es der Politik nicht mehr um die Menschen ginge, sondern vor allem um die Wirtschaft.«
Blasberg fand »die neuralgischen Punkte« und begann ihre Spurensuche mit dem Jahr 1990, dem Jahr der Abwicklung der DDR und der »Großen Enteignung«, wie Ossietzky-Mitherausgeber Otto Köhler sein 1994 erstmals erschienenes Standardwerk nannte, in dem er darlegte, »wie die Treuhand eine Volkswirtschaft liquidierte«. 1990 war auch das Jahr, in dem »sich Ossis über Wessis noch Illusionen« machten und »schon das Fragen allein eine kommunistische Frechheit« war (Köhler). Blasberg trifft einen früheren Treuhandmanager, lässt sich von ihm berichten, wie er als 29-Jähriger zum Rekordverkäufer wurde, weil er 80 ostdeutsche Betriebe in zwei Jahren verkaufte, gemäß der offiziellen Zielvorgabe: Alles muss raus.
Damals erhielt das Vertrauen der Mutter in die Politik »erste Risse«. Sie war »voller Neugier« durch die neuen Bundesländer gefahren, hatte über renovierte Häuser und funkelnde Dächer gestaunt. »Aber den Menschen, die sie traf, ging es schlecht. Auch ihr Cousin im Harz war inzwischen arbeitslos geworden. In Eisenach sah sie, dass die kleinen Geschäfte in der Innenstadt mit Brettern zugenagelt waren, dass aber auf der ›grünen Wiese‹ riesige Einkaufscenter wuchsen.« In jeder von ihr besuchten ostdeutschen Stadt entdeckte sie neue Douglas-Filialen. Es herrschte Goldgräberstimmung. »Sehr bald empfand sie das Ganze nicht mehr als Wiedervereinigung, sondern als Einverleibung.« »The Winner Takes It All«, hat Blasberg dieses Kapitel überschrieben.
Die Reise geht weiter. Anita Blasberg trifft den früheren Vizekanzler Franz Müntefering und Sabine Christiansen, deren Talkshow die Mutter schon lange nicht mehr anschaut. Sie spricht in Frankfurt mit einem Investmentbanker, in Bochum mit der Stadtkämmerin Eva-Maria Hubbert und in Berlin mit dem Ministerialbeamten Christian Kastrop, der die Schuldenbremse erfunden hat. In Halle trifft sie die technische Zeichnerin Gabriele Gebhardt und den 50-jährigen Maurer Kalle Weniger, der als Hartz-IV-Bezieher monatlich 331 Euro erhält: »Fünfzehn Jahre war er nun Bürger im neuen Land. Aber alles, was es ihm zu geben hatte, glaubt er, sei Verachtung. (…) Um die Bürger, glaubt er, gehe es den Regierenden schon lange nicht mehr. So wie mehr als jeder zweite im Osten vertraut er noch nicht mal mehr darauf, dass alle vor dem Gesetz gleich seien.« Eine Denkweise, der sich Blasbergs Mutter mehr und mehr annäherte.
Hatte sie den Staat bis in die Neunzigerjahre hinein als »wohlwollend und freundlich» empfunden, so war er jetzt für sie »misstrauisch, fordernd und harsch« geworden. Immer neue Nachweispflichten habe er erfunden, sagt sie, immer neue Sanktionen: alles Folgen der Agenda 2010, die Kanzler Gerhard Schröder am 14. März 2003, vor 20 Jahren also, in seiner Regierungserklärung verkündet hatte. Blasberg: »Doch während ihre ökonomische Wirkung wohl nie restlos zu klären sein wird, so ist eines sicher: Sie hat ungewollt etwas ganz anderes verändert – die Beziehung vieler Deutscher zu ihrem Staat.« Zu diesen Menschen gehörte auch Blasbergs Mutter.
Weitere Stationen der kritischen Auseinandersetzung mit dem Agieren »der Politik« sind die Weltfinanzkrise ab 2007, in der in mehreren Staaten, so auch in Deutschland, Banken mit Milliarden Euro an Steuergeldern gerettet, die Verluste aber sozialisiert wurden. Die Kreditinstitute waren Too big to fail, ein kapitalistisches Axiom, das auch heute noch gilt, wie es gerade aktuell in der Schweiz die hektische Rettungsaktion für die Großbank Credit Suisse gezeigt hat. 2009 folgte die Eurokrise, in der sogar die Insolvenz von Staaten drohte, beispielsweise Griechenlands. Finanzkapitalismus pur, von der Moral gelöste Märkte: »Heuschrecken« hatte sie Müntefering einmal genannt. Der Einsatz von Wasserwerfern gegen Demonstranten, die gegen das Bahnhofsprojekt Stuttgart 21 protestierten, das anhaltende weltweite Schneckentempo bei der Bekämpfung der Erderwärmung, die NSU-Morde und die Frage, ob da staatliche Institutionen nicht auf dem rechten Auge blind gewesen sind, das Auseinanderdriften von Reden und Handeln, sei es in der Gesundheits-, sei es in der Bildungspolitik, und schließlich die Corona-Pandemie mit den staatlich verordneten Einschränkungen bis in die eigenen vier Wände hinein und den teils verwirrenden, teils widersprüchlichen Beschlüssen: Dies alles ließ eine Saat der Unruhe bis in die Mitte der Gesellschaft vordringen. Anita Blasberg hat in ihrem Buch den Prozess am Beispiel ihrer Mutter beschrieben.
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Allerdings: Zur geistigen Situation der heutigen Zeit gehört meines Erachtens auch, dass wir Bürgerinnen und Bürger lernen müssen, sowohl mit Unsicherheit als auch mit Ungewissheit umzugehen. Und eher der Wissenschaft als einem Blog zu vertrauen. Vieles in Staat und Gesellschaft ist allen Miss- und Widerständen zum Trotz weiterhin intakt.
Die Friedensforscherin Ursula Schäfer, Wissenschaftliche Direktorin des Instituts für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg, dessen Direktor der uns gerade heute sehr fehlende Entspannungspolitiker Egon Bahr von 1984 bis 1994 war, formulierte es kürzlich so in einem Podcast für das Hamburger Abendblatt: »Eine solche Dichte an Krisen und Katastrophen, wie wir sie gerade erleben, gab es in den vergangenen 80 Jahren nicht. Die große Frage ist, wie man den Bürgern erklärt, was der Plan der Regierung ist. Und dabei können wir leider nicht mehr in die Vergangenheit gucken, um zu verstehen, wie es weitergeht.« Dies kann als Aufforderung an die Bundesregierung, vor allem aber an den Bundeskanzler verstanden werden.
»Auch wenn man es nicht sieht,« schreibt Blasberg, »so wird unser Land von einem großen Netz des Vertrauens zusammengehalten. Einige (…) Menschen rissen Löcher in sein Gewebe, andere fielen hinein, manche versuchten verzweifelt, die Löcher zu flicken, andere sahen nur zu. [Das Buch] ist der Versuch, ihre Geschichten zusammenzufügen. Um den Verlust zu verstehen. Aber auch um zu begreifen: Was müsste eigentlich geschehen, um das Vertrauen wiederherzustellen?« Ihre Antwort: »Ohne Kampf wird es nicht gehen. Es wird an jedem einzelnen liegen, den Druck zu erhöhen. Damit sich etwas ändert.«
Der letzte Satz in dem Buch lautet: »Mit reden, denke ich plötzlich, müssten wir anfangen.« Sie meint damit: miteinander und zueinander reden. Kommunizieren. Als vertrauensbildende Maßnahme, würde Egon Bahr vielleicht sagen. Um die verlorene Mitte zurückzugewinnen.
Anita Blasberg: Der Verlust. Warum nicht nur meiner Mutter das Vertrauen in unser Land abhandenkam, Rowohlt 2022, 328 S., 23 €. – »Die große Enteignung. Wie die Treuhand eine Volkswirtschaft liquidierte« von Otto Köhler ist 2011 in einer erweiterten Neuauflage im Verlag Das Neue Berlin erschienen.