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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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100 Jahre und ein Leben lang

Wir schrei­ben das Jahr 1952. Es ist Sep­tem­ber, ich wer­de zehn Jah­re alt, und auf dem Geburts­tags­tisch liegt ein Buch mit einer Wid­mung mei­ner Lieb­lings­tan­te für ihren »lie­ben Klaus«. Heu­te, 70 Jah­re spä­ter, hal­te ich das Buch noch immer in Ehren. Die Buch­bin­der der Han­sea­ti­schen Druck­an­stalt GmbH in Ham­burg-Wands­bek haben damals gute Arbeit abge­lie­fert. Das Papier ist zwar alters­ge­mäß ange­gilbt, doch von dem lei­nen-struk­tu­rier­ten Ein­band in leicht ein­ge­dun­kel­tem Alt­ro­sa sprin­gen mir heu­te wie damals die gro­ßen schwar­zen Ver­sa­li­en des Buch­ti­tels ent­ge­gen, zwei Latei­ni­sche Kreu­ze bil­den in ihm die Buch­sta­ben »T«:

DAS TOTENSCHIFF

  1. TRAVEN

Auf der ersten Vor­satz­sei­te umrah­men ein gro­ßes B und ein gro­ßes G das Signet, eine sti­li­sier­te Spin­del­pres­se. Eine Sei­te wei­ter steht neben dem Titel und dem Zusatz Die Geschich­te eines ame­ri­ka­ni­schen See­manns die Ver­lags­an­ga­be: Bücher­gil­de Guten­berg, Frank­furt a. M. 

Mit die­sem Geburts­tags­ge­schenk, das eine Buch­händ­le­rin mei­ner Tan­te emp­foh­len hat­te, betrat ich die Bücher­welt der Erwach­se­nen. »Wer hier ein­geht, /​ Des Nam‘ und sein ist aus­ge­löscht. /​ Er ist ver­weht! – Wer hier ein­geht, ist ledig aller Qua­len!« Noch nie hat­te ich solch wuch­ti­ge, schick­sals­schwe­re Wor­te gele­sen. Ich kann sie noch heu­te zitie­ren. Dass sich die­se Zei­len an die Gött­li­che Komö­die von Dan­te Ali­ghie­ri anleh­nen, eröff­ne­te sich mir erst Jahr­zehn­te später.

Durch die­ses Buch kam ich zum ersten Mal mit einer Gemein­schaft in Berüh­rung, von der ich damals nichts wuss­te. Ich wuss­te nicht, dass sie als Bücher­gil­de Guten­berg knapp 30 Jah­re zuvor, 1924, im Leip­zi­ger Volks­haus vom gewerk­schaft­li­chen Ver­band der Deut­schen Buch­drucker gegrün­det wor­den war, »um vor allem die Arbei­ter­schaft mit guten, gün­sti­gen Büchern zu ver­sor­gen«; ich wuss­te nicht, dass ihre erste Blü­te­pha­se Anfang Mai 1933 nach der Zer­schla­gung der Frei­en Gewerk­schaf­ten abrupt been­det wur­de mit der gewalt­sa­men Über­nah­me durch die NS-Orga­ni­sa­ti­on »Deut­sche Arbeits­front« und die Beset­zung des Buch­drucker­ge­bäu­des und der Bücher­gil­de in Ber­lin durch die SA; nichts wuss­te ich von der Ver­lags­tä­tig­keit ab 1933 im Exil in der Schweiz, »das zen­tral für das Über­le­ben der Bücher­gil­de wäh­rend der NS-Zeit und ihre Ent­wick­lung nach 1945 war«; und nichts wuss­te ich von ihrer Wie­der­grün­dung 1948, nach der Ertei­lung der Ver­lags­li­zenz für die drei Westzonen.

Damals ahn­te ich eben­so wenig, dass ich in den 1970er Jah­ren als jun­ger Mann ein »Gil­den­bru­der« wer­den wür­de, wie Ernst Prec­zang, Mit­be­grün­der und Chef­lek­tor bis 1927, in der Ein­lei­tung des ersten je bei der Bücher­gil­de erschie­ne­nen Buches die männ­li­chen Mit­glie­der der Gemein­schaft ange­spro­chen hat­te, die weib­li­chen selbst­ver­ständ­lich als »Gil­denschwe­stern«. Seit­dem hat die Bücher­gil­de eini­ge Meter mei­ner Bücher­re­ga­le gefüllt, zum Bei­spiel mit den Gesamt­aus­ga­ben der Wer­ke von Jack Lon­don, Oskar Maria Graf, B. Tra­ven, der 20-bän­di­gen Biblio­thek von Babel des argen­ti­ni­schen Schrift­stel­lers Jor­ge Luis Bor­ges oder der mit Zeich­nun­gen von Klaus Bött­ger illu­strier­ten zwei­bän­di­gen Aus­ga­be der Erzäh­lun­gen von Ambro­se Bier­ce und dem Roman Die toten See­len von Niko­lai Gogol, mit 104 Feder­zeich­nun­gen von Josef Hegenbarth.

Mit hei­te­ren Augen hieß das erste Bücher­gil­de-Buch aus dem Jahr 1924. Es war eine Samm­lung von Geschich­ten Mark Twa­ins, in der sich die Prin­zi­pi­en der frisch gegrün­de­ten Bücher­gil­de wie­der­fan­den: »Welt­of­fen­heit und Aben­teu­er­lust, klu­ge Gesell­schafts­kri­tik gepaart mit Unter­hal­tung.« Zugäng­lich soll­te es sein, aber auch anspruchsvoll.

Die­ses Buch kann jetzt, zum 100. Geburts­tag der Bücher­gil­de Guten­berg, von Mit­glie­dern der Bücher­gil­de druck­frisch in die Hand genom­men wer­den, als redi­gi­ta­li­sier­tes Ori­gi­nal, in gepräg­tem Lei­nen, mit Faden­hef­tung, Kopf­farb­schnitt und Lese­bänd­chen: sei­ne »Geburt« aus dem Geist des Hand­werks bezeu­gend getreu der Devi­se, dass Bücher der Gil­de lang­fri­sti­gen Bestand haben sol­len – mein Toten­schiff, das mich schon ein Leben lang beglei­tet, ist ein prä­sen­ta­bler Zeuge.

Zeit­gleich erschie­nen im aktu­el­len Quar­tal bei der Bücher­gil­de in eben­so qua­li­täts­vol­ler Aus­stat­tung die Jubi­lä­ums­bü­cher Mrs. Dal­lo­way von Vir­gi­nia Woolf mit über 120 Bil­dern einer Klas­se von Kunst-Stu­die­ren­den der Burg Gie­bi­chen­stein in Hal­le und das Lang­ge­dicht Ode an das Buch von Pablo Neru­da, expres­siv von der kolum­bia­ni­schen Künst­le­rin Stef­ha­ny Y. Loza­no illustriert.

Bewe­gend: das Jubi­lä­ums­buch Habt ein bes­se­res Gedächt­nis, die von dem Schrift­stel­ler Wolf­gang Eckert und dem Doku­men­tar Jür­gen Seul ver­fass­te Lebens­ge­schich­te der befreun­de­ten »drei Erichs«. Gemeint sind damit der Bücher­gil­de-Chef­lek­tor und Jour­na­list Knauf, der am 2. Mai 1944 im Zucht­haus Bran­den­burg-Gör­den mit dem Fall­beil ermor­det wur­de, und der Zeich­ner Ohser, ali­as e.o. plau­en, der vor Pro­zess­be­ginn in der Nacht zum 6. April 1944 sich in sei­ner Zel­le erhäng­te; er und Knauf waren von der Gesta­po wegen »defä­ti­sti­scher Äuße­run­gen und Wit­ze« ver­haf­tet wor­den, Nach­barn hat­ten sie denun­ziert. Drit­ter Erich im Freund­schafts­bun­de war der Schrift­stel­ler Käst­ner, der das Kriegs­en­de als Mit­ar­bei­ter eines fin­gier­ten Film­pro­jekts in Süd­ti­rol über­lebt hat.

»Habent sua fata libel­li«, lau­tet ein latei­ni­sches Sprich­wort, das 1888 bezie­hungs­rei­cher Wahl­spruch des Bör­sen­ver­eins des Deut­schen Buch­han­dels wur­de. Aber auch Ver­la­ge und Buch­ge­mein­schaf­ten haben ihr eige­nes Schick­sal. Dies zeigt die zum Jubi­lä­um erschie­ne­ne Fest­schrift, die der Jour­na­list Björn Bie­ster unter dem Titel Vor­wärts – mit hei­te­ren Augen! vor­leg­te. Sie bie­tet einen eben­so unter­halt­sa­men wie infor­ma­ti­ven Über­blick »über Ver­gan­gen­heit und Gegen­wart der Bücher­gil­de, der mitt­ler­wei­le ein­zi­gen Buch­ge­mein­schaft im deutsch­spra­chi­gen Raum«, und ihre aben­teu­er­li­che Geschich­te. Vol­ler Stolz schreibt Alex­an­der Els­pas, Gil­de-Geschäfts­füh­rer seit Okto­ber 2017: »Es ist eine wech­sel­vol­le Geschich­te, von den kämp­fe­ri­schen Grün­dungs­jah­ren, Ver­fol­gung und Exil, einer blü­hen­den Nach­kriegs­zeit, der Tren­nung aus gewerk­schaft­li­chen Ban­den und immer wie­der Tur­bu­len­zen, die Umden­ken und Neu­starts erforderten.«

Ver­schwun­den sind der 1950 gegrün­de­te Ber­tels­mann Lese­ring, vor­mals aggres­si­ver Gigant unter den Buch­ge­mein­schaf­ten, abge­wickelt im Som­mer 2014. Ver­schwun­den sind diver­se ande­re Buch­ge­mein­schaf­ten. Die Bücher­gil­de hat sie alle über­lebt, dank einer weit­rei­chen­den, muti­gen Ent­schei­dung, die das Mit­glie­der­ma­ga­zin im Som­mer 2014 so bewarb: »Die Bücher­gil­de wird Genos­sen­schaft! Zukunft sichern, Tra­di­ti­on bewah­ren – Wer­den Sie Miteigentümer/​in!« Am 1. Juli 2015 nahm die Ver­lags­ge­nos­sen­schaft ihre Tätig­keit auf. Sitz ist seit Früh­jahr 2021 das »Haus des Buches« in Frank­furt am Main, »in der Stadt, in der die Bücher­gil­de nach dem Zwei­ten Welt­krieg von Hel­mut Dreß­ler mit Hil­fe west­deut­scher Gewerk­schaf­ten neu­ge­grün­det wur­de«. Sie wird heu­te getra­gen von 60 000 Mit­glie­dern und unter­stützt von über 1500 enga­gier­ten Genos­sin­nen und Genossen.

Im ver­gan­ge­nen Jahr bezog die Bücher­gil­de ein klei­nes Büro in Leip­zig. Hier, am ursprüng­li­chen Grün­dungs­ort, wur­de vor kur­zem das 100-jäh­ri­ge Bestehen gefei­ert, mit einem lan­gen Fest- und Lese­wo­chen­en­de vom 29. August bis zum 1. Sep­tem­ber und einer gro­ßen Aus­stel­lung im Werk­statt­mu­se­um für Druck­kunst Leip­zig, Non­nen­stra­ße 38. Die Aus­stel­lung ist noch bis zum 10. Novem­ber zu sehen und soll auch zum Aus­tausch über Zukunfts­zie­le einladen.

Zu die­sen zählt Geschäfts­füh­rer Els­pas neben der Erhö­hung der Mit­lie­der­zahl der Buch­ge­mein­schaft und der Genos­sen­schaft die ver­stärk­te Aus­rich­tung auf den Lese­nach­wuchs, beson­ders was The­men und Designs der Bücher sowie Ver­än­de­run­gen der Spra­che und Lebens­rea­li­tä­ten angeht. Außer­dem im Fokus: der gro­ße Kom­plex der Nach­hal­tig­keit im Bezug auf Pro­duk­te und Her­stel­lungs­ket­ten sowie Koope­ra­tio­nen mit Unter­neh­men, Orga­ni­sa­tio­nen und Insti­tu­tio­nen, »die mit ihren Wer­ten und Pro­duk­ten zu uns passen«.

Els­pas: »Natür­lich wol­len wir unser Anlie­gen auch in die sozia­len Netz­wer­ke tra­gen. Men­schen sol­len uns ken­nen­ler­nen, denn die Annah­me, dass jeder die Bücher­gil­de kennt, wäre ja ver­mes­sen. Und wir wer­den nicht müde, auch die näch­sten 100 Jah­re von der Bücher­gil­de zu erzählen.«

Daher sei hier, als Auf­mun­te­rung, der Satz wie­der­holt, mit dem 1924 Ernst Prec­zang sein Vor­wort zum aller­er­sten Bücher­gil­de-Buch been­de­te: »Und nun noch ein Glück­auf zur ersten Fahrt, jun­ge Bücher­gil­de! Vor­wärts – mit hei­te­ren Augen!«

 Für Infor­ma­tio­nen zur Bücher­gil­de, zu den erwähn­ten Büchern und zum Jubi­lä­um: www.buechergilde.de.