Wir schreiben das Jahr 1952. Es ist September, ich werde zehn Jahre alt, und auf dem Geburtstagstisch liegt ein Buch mit einer Widmung meiner Lieblingstante für ihren »lieben Klaus«. Heute, 70 Jahre später, halte ich das Buch noch immer in Ehren. Die Buchbinder der Hanseatischen Druckanstalt GmbH in Hamburg-Wandsbek haben damals gute Arbeit abgeliefert. Das Papier ist zwar altersgemäß angegilbt, doch von dem leinen-strukturierten Einband in leicht eingedunkeltem Altrosa springen mir heute wie damals die großen schwarzen Versalien des Buchtitels entgegen, zwei Lateinische Kreuze bilden in ihm die Buchstaben »T«:
DAS TOTENSCHIFF
- TRAVEN
Auf der ersten Vorsatzseite umrahmen ein großes B und ein großes G das Signet, eine stilisierte Spindelpresse. Eine Seite weiter steht neben dem Titel und dem Zusatz Die Geschichte eines amerikanischen Seemanns die Verlagsangabe: Büchergilde Gutenberg, Frankfurt a. M.
Mit diesem Geburtstagsgeschenk, das eine Buchhändlerin meiner Tante empfohlen hatte, betrat ich die Bücherwelt der Erwachsenen. »Wer hier eingeht, / Des Nam‘ und sein ist ausgelöscht. / Er ist verweht! – Wer hier eingeht, ist ledig aller Qualen!« Noch nie hatte ich solch wuchtige, schicksalsschwere Worte gelesen. Ich kann sie noch heute zitieren. Dass sich diese Zeilen an die Göttliche Komödie von Dante Alighieri anlehnen, eröffnete sich mir erst Jahrzehnte später.
Durch dieses Buch kam ich zum ersten Mal mit einer Gemeinschaft in Berührung, von der ich damals nichts wusste. Ich wusste nicht, dass sie als Büchergilde Gutenberg knapp 30 Jahre zuvor, 1924, im Leipziger Volkshaus vom gewerkschaftlichen Verband der Deutschen Buchdrucker gegründet worden war, »um vor allem die Arbeiterschaft mit guten, günstigen Büchern zu versorgen«; ich wusste nicht, dass ihre erste Blütephase Anfang Mai 1933 nach der Zerschlagung der Freien Gewerkschaften abrupt beendet wurde mit der gewaltsamen Übernahme durch die NS-Organisation »Deutsche Arbeitsfront« und die Besetzung des Buchdruckergebäudes und der Büchergilde in Berlin durch die SA; nichts wusste ich von der Verlagstätigkeit ab 1933 im Exil in der Schweiz, »das zentral für das Überleben der Büchergilde während der NS-Zeit und ihre Entwicklung nach 1945 war«; und nichts wusste ich von ihrer Wiedergründung 1948, nach der Erteilung der Verlagslizenz für die drei Westzonen.
Damals ahnte ich ebenso wenig, dass ich in den 1970er Jahren als junger Mann ein »Gildenbruder« werden würde, wie Ernst Preczang, Mitbegründer und Cheflektor bis 1927, in der Einleitung des ersten je bei der Büchergilde erschienenen Buches die männlichen Mitglieder der Gemeinschaft angesprochen hatte, die weiblichen selbstverständlich als »Gildenschwestern«. Seitdem hat die Büchergilde einige Meter meiner Bücherregale gefüllt, zum Beispiel mit den Gesamtausgaben der Werke von Jack London, Oskar Maria Graf, B. Traven, der 20-bändigen Bibliothek von Babel des argentinischen Schriftstellers Jorge Luis Borges oder der mit Zeichnungen von Klaus Böttger illustrierten zweibändigen Ausgabe der Erzählungen von Ambrose Bierce und dem Roman Die toten Seelen von Nikolai Gogol, mit 104 Federzeichnungen von Josef Hegenbarth.
Mit heiteren Augen hieß das erste Büchergilde-Buch aus dem Jahr 1924. Es war eine Sammlung von Geschichten Mark Twains, in der sich die Prinzipien der frisch gegründeten Büchergilde wiederfanden: »Weltoffenheit und Abenteuerlust, kluge Gesellschaftskritik gepaart mit Unterhaltung.« Zugänglich sollte es sein, aber auch anspruchsvoll.
Dieses Buch kann jetzt, zum 100. Geburtstag der Büchergilde Gutenberg, von Mitgliedern der Büchergilde druckfrisch in die Hand genommen werden, als redigitalisiertes Original, in geprägtem Leinen, mit Fadenheftung, Kopffarbschnitt und Lesebändchen: seine »Geburt« aus dem Geist des Handwerks bezeugend getreu der Devise, dass Bücher der Gilde langfristigen Bestand haben sollen – mein Totenschiff, das mich schon ein Leben lang begleitet, ist ein präsentabler Zeuge.
Zeitgleich erschienen im aktuellen Quartal bei der Büchergilde in ebenso qualitätsvoller Ausstattung die Jubiläumsbücher Mrs. Dalloway von Virginia Woolf mit über 120 Bildern einer Klasse von Kunst-Studierenden der Burg Giebichenstein in Halle und das Langgedicht Ode an das Buch von Pablo Neruda, expressiv von der kolumbianischen Künstlerin Stefhany Y. Lozano illustriert.
Bewegend: das Jubiläumsbuch Habt ein besseres Gedächtnis, die von dem Schriftsteller Wolfgang Eckert und dem Dokumentar Jürgen Seul verfasste Lebensgeschichte der befreundeten »drei Erichs«. Gemeint sind damit der Büchergilde-Cheflektor und Journalist Knauf, der am 2. Mai 1944 im Zuchthaus Brandenburg-Görden mit dem Fallbeil ermordet wurde, und der Zeichner Ohser, alias e.o. plauen, der vor Prozessbeginn in der Nacht zum 6. April 1944 sich in seiner Zelle erhängte; er und Knauf waren von der Gestapo wegen »defätistischer Äußerungen und Witze« verhaftet worden, Nachbarn hatten sie denunziert. Dritter Erich im Freundschaftsbunde war der Schriftsteller Kästner, der das Kriegsende als Mitarbeiter eines fingierten Filmprojekts in Südtirol überlebt hat.
»Habent sua fata libelli«, lautet ein lateinisches Sprichwort, das 1888 beziehungsreicher Wahlspruch des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels wurde. Aber auch Verlage und Buchgemeinschaften haben ihr eigenes Schicksal. Dies zeigt die zum Jubiläum erschienene Festschrift, die der Journalist Björn Biester unter dem Titel Vorwärts – mit heiteren Augen! vorlegte. Sie bietet einen ebenso unterhaltsamen wie informativen Überblick »über Vergangenheit und Gegenwart der Büchergilde, der mittlerweile einzigen Buchgemeinschaft im deutschsprachigen Raum«, und ihre abenteuerliche Geschichte. Voller Stolz schreibt Alexander Elspas, Gilde-Geschäftsführer seit Oktober 2017: »Es ist eine wechselvolle Geschichte, von den kämpferischen Gründungsjahren, Verfolgung und Exil, einer blühenden Nachkriegszeit, der Trennung aus gewerkschaftlichen Banden und immer wieder Turbulenzen, die Umdenken und Neustarts erforderten.«
Verschwunden sind der 1950 gegründete Bertelsmann Lesering, vormals aggressiver Gigant unter den Buchgemeinschaften, abgewickelt im Sommer 2014. Verschwunden sind diverse andere Buchgemeinschaften. Die Büchergilde hat sie alle überlebt, dank einer weitreichenden, mutigen Entscheidung, die das Mitgliedermagazin im Sommer 2014 so bewarb: »Die Büchergilde wird Genossenschaft! Zukunft sichern, Tradition bewahren – Werden Sie Miteigentümer/in!« Am 1. Juli 2015 nahm die Verlagsgenossenschaft ihre Tätigkeit auf. Sitz ist seit Frühjahr 2021 das »Haus des Buches« in Frankfurt am Main, »in der Stadt, in der die Büchergilde nach dem Zweiten Weltkrieg von Helmut Dreßler mit Hilfe westdeutscher Gewerkschaften neugegründet wurde«. Sie wird heute getragen von 60 000 Mitgliedern und unterstützt von über 1500 engagierten Genossinnen und Genossen.
Im vergangenen Jahr bezog die Büchergilde ein kleines Büro in Leipzig. Hier, am ursprünglichen Gründungsort, wurde vor kurzem das 100-jährige Bestehen gefeiert, mit einem langen Fest- und Lesewochenende vom 29. August bis zum 1. September und einer großen Ausstellung im Werkstattmuseum für Druckkunst Leipzig, Nonnenstraße 38. Die Ausstellung ist noch bis zum 10. November zu sehen und soll auch zum Austausch über Zukunftsziele einladen.
Zu diesen zählt Geschäftsführer Elspas neben der Erhöhung der Mitliederzahl der Buchgemeinschaft und der Genossenschaft die verstärkte Ausrichtung auf den Lesenachwuchs, besonders was Themen und Designs der Bücher sowie Veränderungen der Sprache und Lebensrealitäten angeht. Außerdem im Fokus: der große Komplex der Nachhaltigkeit im Bezug auf Produkte und Herstellungsketten sowie Kooperationen mit Unternehmen, Organisationen und Institutionen, »die mit ihren Werten und Produkten zu uns passen«.
Elspas: »Natürlich wollen wir unser Anliegen auch in die sozialen Netzwerke tragen. Menschen sollen uns kennenlernen, denn die Annahme, dass jeder die Büchergilde kennt, wäre ja vermessen. Und wir werden nicht müde, auch die nächsten 100 Jahre von der Büchergilde zu erzählen.«
Daher sei hier, als Aufmunterung, der Satz wiederholt, mit dem 1924 Ernst Preczang sein Vorwort zum allerersten Büchergilde-Buch beendete: »Und nun noch ein Glückauf zur ersten Fahrt, junge Büchergilde! Vorwärts – mit heiteren Augen!«
Für Informationen zur Büchergilde, zu den erwähnten Büchern und zum Jubiläum: www.buechergilde.de.