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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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10 Gebote heute

Es dürf­te wohl klar sein, dass die 10 Gebo­te, die angeb­lich Moses von Gott auf dem Berg Sinai emp­fan­gen und müh­se­lig auf Stein­ta­feln gemei­ßelt hat, von aus­schlag­ge­ben­der mora­li­scher Gül­tig­keit waren und sind, sowohl für das jüdisch-christ­li­che als auch das mus­li­mi­sche Leben sowie schließ­lich für die For­mu­lie­rung uni­ver­sel­ler Men­schen­rech­te und Men­schen­pflich­ten. Die­se Gebo­te kön­nen als uni­ver­sel­les und idea­les Grun­der­be der Mensch­heit bezeich­net wer­den, das aller­dings bekannt­lich nur bedingt beher­zigt und bis heu­te nur bruch­stück­haft ver­wirk­licht wur­de. Wie schwie­rig das Befol­gen der Gebo­te von Anfang an war, zeigt bereits die über­lie­fer­te Epi­so­de, dass Moses die Geset­zes­ta­fel vor Wut zer­schmet­ter­te, als er das erste Mal vom Berg Sinai mit den Tafeln her­ab­stieg und sah, wie die Juden um das ver­bo­te­ne »Gol­de­ne Kalb« (ent­ge­gen dem Gebot: »Du sollst Dir kein Bild machen«) tanz­ten und eini­ge, nach ent­beh­rungs­rei­cher Wüsten­wan­de­rung, sogar ent­schlos­sen waren, lie­ber zu den »Fleisch­töp­fen« in die ägyp­ti­sche Skla­ve­rei zurück­zu­keh­ren, statt die gefähr­li­che, was­ser­ar­me Wüsten­wan­de­rung ins »Gelob­te Land« fort­zu­set­zen, wo angeb­lich Milch und Honig flie­ßen soll­ten. Ihnen waren die fra­gi­len Sicher­hei­ten der Skla­ve­rei lie­ber als die vage Uto­pie vom »Gelob­ten Land«.

Aber zwi­schen Idea­len und Wirk­lich­keit kann es wohl nie zur Deckungs­gleich­heit kom­men, noch dazu, wenn bis heu­te nicht ganz klar ist, mit wel­chen Mit­teln die­se Gebo­te indi­vi­du­ell und gesell­schaft­lich umge­setzt wer­den sol­len. Den­noch dürf­te unbe­strit­ten sein, dass sich das Leben ohne die­se 10 Gebo­te indi­vi­du­el­ler und gesell­schaft­li­cher Lebens­re­geln noch weni­ger human, noch bar­ba­ri­scher voll­zo­gen hät­te. Und die Juden wären wohl nicht in ihr ein­sti­ges Hei­mat­land zurück­ge­kehrt. Dann wären auch die Welt­re­li­gio­nen und ihre Insti­tu­tio­nen nicht ent­stan­den, auch nicht die UN-Char­ta und die »All­ge­mei­ne Erklä­rung der Men­schen­rech­te« sowie die vie­len Ver­fas­sungs­tex­te, die nach 1945 for­mu­liert wur­den. Selbst Wal­ter Ulb­richt wäre nicht auf die Idee gekom­men, 10 Gebo­te der sozia­li­sti­schen Moral for­mu­lie­ren zu las­sen, die aller­dings bekannt­lich auch nicht ein­ge­hal­ten wur­den und den Unter­gang der DDR nicht ver­hin­dern konnten.

Alles in allem fin­de ich es trotz­dem inter­es­sant und loh­nend, eine aktu­el­le, säku­la­re Aus­le­gung der 10 Gebo­te gedank­lich durch­zu­spie­len. Es fehlt m.E. drin­gend an einem kur­zem, säku­la­ri­sier­ten Moral­ko­dex und erneu­ter welt­an­schau­li­cher Ori­en­tie­rung, gera­de in die­sen fin­ste­ren Zei­ten, ange­sichts der unlös­bar erschei­nen­den, welt­wei­ten Krie­ge, der Gewalt erzeu­gen­den, sozia­len und natio­na­len Spal­tun­gen, der rechts­ra­di­ka­len Demo­kra­tie-Gefähr­dun­gen sowie der lebens­be­droh­li­chen öko­lo­gi­schen Kri­se. Es soll des­halb hier ver­sucht wer­den, gedank­lich zu skiz­zie­ren, wie sich die­se 10 einst jüdi­schen Gebo­te für heu­ti­ge Welt­ver­hält­nis­se über­setz­ten lie­ßen, immer auf der Suche, mit wel­chen Mit­teln sie nicht nur mora­lisch gefor­dert, son­dern auch soli­da­risch umge­setzt wer­den könnten:

  1. Du sollst Gott als Herrn und Befrei­er aus Ägyp­ten anerkennen. 

Die­ses Gebot for­mu­liert einen uni­ver­sel­len Grund­an­trieb mensch­li­cher Exi­stenz: die Befrei­ung aus skla­vi­scher Unter­drückung und Aus­beu­tung, aus Fremd­be­stim­mun­gen jeg­li­cher Art. Das Unab­hän­gig­keits­stre­ben, die Sehn­sucht nach auto­no­mer mensch­li­cher Ent­wick­lung, mög­lichst in einer natio­na­len Heim­statt, deren Mut­ter­spra­che und Kul­tur schon den eige­nen Vor­fah­ren ver­traut waren und die sie pri­mär her­vor­ge­bracht haben, umschreibt einen zen­tra­len Grund­wert mensch­li­chen Glücks­stre­bens. Die­ses indi­vi­du­el­le und natio­na­le Unab­hän­gig­keits­stre­ben ist die Vor­aus­set­zung von Selbst­be­stim­mung und Selbst­ver­wirk­li­chung jeder mensch­li­chen Existenz.

  1. Du sollst nur an einen Gott glau­ben und Dir nicht vor­stel­len, wie er aussieht. 

Da Gott die Men­schen nach sei­nem Eben­bild geschaf­fen haben soll, heißt das in erster Linie, das eige­ne Leben und das Leben ande­rer Men­schen stets als höch­stes Gut zu wür­di­gen, unab­hän­gig davon, wie divers Men­schen aus­se­hen oder geprägt sein kön­nen. Das schließt jeg­li­che Dis­kri­mi­nie­rung und Aus­beu­tung aus.

  1. Du sollst Got­tes Namen in Ehren halten. 

Da Gott die Men­schen nach sei­nem Eben­bild geschaf­fen hat, gilt es, Men­schen­wür­de und uni­ver­sel­le Men­schen­rech­te beson­ders zu wür­di­gen, und danach zu stre­ben, sie auch zu ver­wirk­li­chen. Auch Fau­na und Flo­ra gilt es zu bewah­ren und zu pfle­gen, weil sie unse­re natür­li­chen Lebens­be­din­gun­gen auf die­ser Erde darstellen.

  1. Du sollst am Schab­bat ruhen und ihn feiern. 

Wäh­rend an Wochen­ta­gen der Lebens­un­ter­halt ver­dient wird, ist dies den­noch kein Selbst­zweck. An arbeits­frei­en Stun­den und Tagen gilt es, sich zu erho­len und das Leben mög­lichst zu genie­ßen und zu fei­ern. Denn ohne Rege­ne­rie­rung ist das Mensch­sein von Aus­beu­tung, Selbst­aus­beu­tung und Qua­len der Über­for­de­rung über­schat­tet. Des­halb ist das Rin­gen um ver­kürz­te Arbeits- und Lebens­ar­beits­zei­ten zen­tral für ein men­schen­wür­di­ges Leben und fun­da­men­tal für eine freie Ent­wick­lung des Menschseins.

  1. Du sollst dei­ne Eltern ehren. 

Wenn Frau und Mann jedem Kind das Leben schen­ken und in des­sen Kind­heit und Jugend zu einer Ent­wick­lung ver­hel­fen, gilt auch für die Nach­kom­men, dafür zu sor­gen, dass das Leben der Eltern gewür­digt und unter­stützt wird. Soli­da­ri­tät der Men­schen beginnt in der Fami­lie und beruht auf Gegen­sei­tig­keit zwi­schen den Geschlech­tern und Generationen.

  1. Du sollst nicht morden. 

Da der Mensch das höch­ste Wesen ist, das wir ken­nen, hat die Erhal­tung und Ent­wick­lung allen Lebens auf der Erde, das mensch­li­che Ent­wick­lung ermög­licht, aller­er­ste Prio­ri­tät. Tötung und Zer­stö­rung von Men­schen und Natur, sei es durch Aus­beu­tung, Raub­bau, Gewalt­ta­ten oder Krie­ge sind des­halb ein Ver­bre­chen gegen das Men­schen­recht auf Leben und mit allen Rechts­mit­teln zu ver­hin­dern. Frie­den kann nicht durch maxi­ma­le Auf­rü­stung und kri­mi­nel­le und krie­ge­ri­sche Gewalt, son­dern nur durch das Rin­gen, um gegen­sei­ti­ges Ver­ständ­nis und soli­da­ri­sche Hil­fe, durch sozia­len Aus­gleich und gesell­schaft­li­cher Koexi­stenz errun­gen werden.

  1. Du sollst nicht ehebrechen. 

Die Lie­be zwi­schen Frau­en und Män­nern ist das höch­ste Gut mensch­li­cher Soli­da­ri­tät. Von die­ser Soli­da­ri­tät hängt nicht nur das Lebens­glück bei­der Geschlech­ter ab, son­dern auch die Geburt, die Obhut und Ent­wick­lung der Kin­der, die aus die­sen Bezie­hun­gen her­vor­ge­hen. Die Fami­lie ist die Keim­zel­le mensch­li­chen Lebens, und die Wah­rung der Lie­be ist von aus­schlag­ge­ben­der Bedeu­tung für alle Sei­ten eines glück­li­chen Fami­li­en­le­bens, unab­hän­gig davon, ob die­se Bezie­hun­gen ver­trag­lich fixiert oder sexu­ell und men­tal auf Dau­er von Bestand sind.

  1. Du sollst nicht stehlen. 

Aus­beu­tung, wel­cher Art auch immer, beruht auf Aneig­nung frem­der Arbeit sowie dem Raub von mate­ri­el­len und gei­sti­gen Gütern, die ande­ren recht­mä­ßig gehö­ren. Das ist Dieb­stahl an ihrem Eigen­tum. Das Rin­gen um auto­no­me, selbst­be­stimm­te Ent­wick­lung ist nur mög­lich, wenn Men­schen für den Wert ihrer gelei­ste­ten Arbeit auch gerecht bezahlt wer­den und davon men­schen­wür­dig leben kön­nen. Die Über­win­dung sozia­ler, eth­ni­scher und natio­na­ler Spal­tun­gen war und ist des­halb eine zen­tra­le Über­le­bens­fra­ge der Mensch­heit, ist die Kern­for­de­rung mensch­li­cher Solidarität.

  1. Du sollst nicht Fal­sches über ande­re sagen. 

Die Selbst­dar­stel­lung von Men­schen kann auf­grund ihrer begrenz­ten, sozia­len und natio­na­len Inter­es­sen, ihre damit ver­bun­de­nen poli­ti­schen Zie­le und Anschau­un­gen vol­ler Zerr­bil­der sein und auf ideo­lo­gisch beding­tem ver­kehr­tem Bewusst­sein beru­hen. Die­se Lügen oder Halb­wahr­hei­ten auf­zu­decken und zu bekämp­fen ist ein prio­ri­tä­res Men­schen­recht, ohne das es ein selbst­be­stimm­tes indi­vi­du­el­les und gesell­schaft­li­ches Leben nicht geben kann.

  1. Du sollst nie­man­den beneiden. 

Jeder Mensch kann nur, in Abhän­gig­keit sei­ner fami­liä­ren und bio­gra­fi­schen Prä­gun­gen, sei­ner Bil­dungs­we­ge, sei­ner Arbeits- und Lebens­be­din­gun­gen und der herr­schen­den poli­ti­schen Ver­hält­nis­se, in die er hin­ein gebo­ren wur­de, eine bestimm­te auto­no­me Ent­wick­lung in sei­ner Lebens­zeit ver­wirk­li­chen. Er kann die Gren­zen die­ser inne­ren und äuße­ren Ent­wick­lungs­mög­lich­kei­ten nicht will­kür­lich über­schrei­ten, son­dern nur inso­fern erwei­tern, wie es ihm gelingt, mit Gleich­ge­sinn­ten soli­da­risch zur Ver­wirk­li­chung sei­ner Men­schen­rech­te und der Men­schen­rech­te der gan­zen Gesell­schaft beizutragen.