Es dürfte wohl klar sein, dass die 10 Gebote, die angeblich Moses von Gott auf dem Berg Sinai empfangen und mühselig auf Steintafeln gemeißelt hat, von ausschlaggebender moralischer Gültigkeit waren und sind, sowohl für das jüdisch-christliche als auch das muslimische Leben sowie schließlich für die Formulierung universeller Menschenrechte und Menschenpflichten. Diese Gebote können als universelles und ideales Grunderbe der Menschheit bezeichnet werden, das allerdings bekanntlich nur bedingt beherzigt und bis heute nur bruchstückhaft verwirklicht wurde. Wie schwierig das Befolgen der Gebote von Anfang an war, zeigt bereits die überlieferte Episode, dass Moses die Gesetzestafel vor Wut zerschmetterte, als er das erste Mal vom Berg Sinai mit den Tafeln herabstieg und sah, wie die Juden um das verbotene »Goldene Kalb« (entgegen dem Gebot: »Du sollst Dir kein Bild machen«) tanzten und einige, nach entbehrungsreicher Wüstenwanderung, sogar entschlossen waren, lieber zu den »Fleischtöpfen« in die ägyptische Sklaverei zurückzukehren, statt die gefährliche, wasserarme Wüstenwanderung ins »Gelobte Land« fortzusetzen, wo angeblich Milch und Honig fließen sollten. Ihnen waren die fragilen Sicherheiten der Sklaverei lieber als die vage Utopie vom »Gelobten Land«.
Aber zwischen Idealen und Wirklichkeit kann es wohl nie zur Deckungsgleichheit kommen, noch dazu, wenn bis heute nicht ganz klar ist, mit welchen Mitteln diese Gebote individuell und gesellschaftlich umgesetzt werden sollen. Dennoch dürfte unbestritten sein, dass sich das Leben ohne diese 10 Gebote individueller und gesellschaftlicher Lebensregeln noch weniger human, noch barbarischer vollzogen hätte. Und die Juden wären wohl nicht in ihr einstiges Heimatland zurückgekehrt. Dann wären auch die Weltreligionen und ihre Institutionen nicht entstanden, auch nicht die UN-Charta und die »Allgemeine Erklärung der Menschenrechte« sowie die vielen Verfassungstexte, die nach 1945 formuliert wurden. Selbst Walter Ulbricht wäre nicht auf die Idee gekommen, 10 Gebote der sozialistischen Moral formulieren zu lassen, die allerdings bekanntlich auch nicht eingehalten wurden und den Untergang der DDR nicht verhindern konnten.
Alles in allem finde ich es trotzdem interessant und lohnend, eine aktuelle, säkulare Auslegung der 10 Gebote gedanklich durchzuspielen. Es fehlt m.E. dringend an einem kurzem, säkularisierten Moralkodex und erneuter weltanschaulicher Orientierung, gerade in diesen finsteren Zeiten, angesichts der unlösbar erscheinenden, weltweiten Kriege, der Gewalt erzeugenden, sozialen und nationalen Spaltungen, der rechtsradikalen Demokratie-Gefährdungen sowie der lebensbedrohlichen ökologischen Krise. Es soll deshalb hier versucht werden, gedanklich zu skizzieren, wie sich diese 10 einst jüdischen Gebote für heutige Weltverhältnisse übersetzten ließen, immer auf der Suche, mit welchen Mitteln sie nicht nur moralisch gefordert, sondern auch solidarisch umgesetzt werden könnten:
- Du sollst Gott als Herrn und Befreier aus Ägypten anerkennen.
Dieses Gebot formuliert einen universellen Grundantrieb menschlicher Existenz: die Befreiung aus sklavischer Unterdrückung und Ausbeutung, aus Fremdbestimmungen jeglicher Art. Das Unabhängigkeitsstreben, die Sehnsucht nach autonomer menschlicher Entwicklung, möglichst in einer nationalen Heimstatt, deren Muttersprache und Kultur schon den eigenen Vorfahren vertraut waren und die sie primär hervorgebracht haben, umschreibt einen zentralen Grundwert menschlichen Glücksstrebens. Dieses individuelle und nationale Unabhängigkeitsstreben ist die Voraussetzung von Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung jeder menschlichen Existenz.
- Du sollst nur an einen Gott glauben und Dir nicht vorstellen, wie er aussieht.
Da Gott die Menschen nach seinem Ebenbild geschaffen haben soll, heißt das in erster Linie, das eigene Leben und das Leben anderer Menschen stets als höchstes Gut zu würdigen, unabhängig davon, wie divers Menschen aussehen oder geprägt sein können. Das schließt jegliche Diskriminierung und Ausbeutung aus.
- Du sollst Gottes Namen in Ehren halten.
Da Gott die Menschen nach seinem Ebenbild geschaffen hat, gilt es, Menschenwürde und universelle Menschenrechte besonders zu würdigen, und danach zu streben, sie auch zu verwirklichen. Auch Fauna und Flora gilt es zu bewahren und zu pflegen, weil sie unsere natürlichen Lebensbedingungen auf dieser Erde darstellen.
- Du sollst am Schabbat ruhen und ihn feiern.
Während an Wochentagen der Lebensunterhalt verdient wird, ist dies dennoch kein Selbstzweck. An arbeitsfreien Stunden und Tagen gilt es, sich zu erholen und das Leben möglichst zu genießen und zu feiern. Denn ohne Regenerierung ist das Menschsein von Ausbeutung, Selbstausbeutung und Qualen der Überforderung überschattet. Deshalb ist das Ringen um verkürzte Arbeits- und Lebensarbeitszeiten zentral für ein menschenwürdiges Leben und fundamental für eine freie Entwicklung des Menschseins.
- Du sollst deine Eltern ehren.
Wenn Frau und Mann jedem Kind das Leben schenken und in dessen Kindheit und Jugend zu einer Entwicklung verhelfen, gilt auch für die Nachkommen, dafür zu sorgen, dass das Leben der Eltern gewürdigt und unterstützt wird. Solidarität der Menschen beginnt in der Familie und beruht auf Gegenseitigkeit zwischen den Geschlechtern und Generationen.
- Du sollst nicht morden.
Da der Mensch das höchste Wesen ist, das wir kennen, hat die Erhaltung und Entwicklung allen Lebens auf der Erde, das menschliche Entwicklung ermöglicht, allererste Priorität. Tötung und Zerstörung von Menschen und Natur, sei es durch Ausbeutung, Raubbau, Gewalttaten oder Kriege sind deshalb ein Verbrechen gegen das Menschenrecht auf Leben und mit allen Rechtsmitteln zu verhindern. Frieden kann nicht durch maximale Aufrüstung und kriminelle und kriegerische Gewalt, sondern nur durch das Ringen, um gegenseitiges Verständnis und solidarische Hilfe, durch sozialen Ausgleich und gesellschaftlicher Koexistenz errungen werden.
- Du sollst nicht ehebrechen.
Die Liebe zwischen Frauen und Männern ist das höchste Gut menschlicher Solidarität. Von dieser Solidarität hängt nicht nur das Lebensglück beider Geschlechter ab, sondern auch die Geburt, die Obhut und Entwicklung der Kinder, die aus diesen Beziehungen hervorgehen. Die Familie ist die Keimzelle menschlichen Lebens, und die Wahrung der Liebe ist von ausschlaggebender Bedeutung für alle Seiten eines glücklichen Familienlebens, unabhängig davon, ob diese Beziehungen vertraglich fixiert oder sexuell und mental auf Dauer von Bestand sind.
- Du sollst nicht stehlen.
Ausbeutung, welcher Art auch immer, beruht auf Aneignung fremder Arbeit sowie dem Raub von materiellen und geistigen Gütern, die anderen rechtmäßig gehören. Das ist Diebstahl an ihrem Eigentum. Das Ringen um autonome, selbstbestimmte Entwicklung ist nur möglich, wenn Menschen für den Wert ihrer geleisteten Arbeit auch gerecht bezahlt werden und davon menschenwürdig leben können. Die Überwindung sozialer, ethnischer und nationaler Spaltungen war und ist deshalb eine zentrale Überlebensfrage der Menschheit, ist die Kernforderung menschlicher Solidarität.
- Du sollst nicht Falsches über andere sagen.
Die Selbstdarstellung von Menschen kann aufgrund ihrer begrenzten, sozialen und nationalen Interessen, ihre damit verbundenen politischen Ziele und Anschauungen voller Zerrbilder sein und auf ideologisch bedingtem verkehrtem Bewusstsein beruhen. Diese Lügen oder Halbwahrheiten aufzudecken und zu bekämpfen ist ein prioritäres Menschenrecht, ohne das es ein selbstbestimmtes individuelles und gesellschaftliches Leben nicht geben kann.
- Du sollst niemanden beneiden.
Jeder Mensch kann nur, in Abhängigkeit seiner familiären und biografischen Prägungen, seiner Bildungswege, seiner Arbeits- und Lebensbedingungen und der herrschenden politischen Verhältnisse, in die er hinein geboren wurde, eine bestimmte autonome Entwicklung in seiner Lebenszeit verwirklichen. Er kann die Grenzen dieser inneren und äußeren Entwicklungsmöglichkeiten nicht willkürlich überschreiten, sondern nur insofern erweitern, wie es ihm gelingt, mit Gleichgesinnten solidarisch zur Verwirklichung seiner Menschenrechte und der Menschenrechte der ganzen Gesellschaft beizutragen.