»Solidarität ist Zukunft« lautete das Motto des 1. Mai 2021. »Doch was macht solidarisches Handeln heute aus – vor allem jetzt, in der größten Krise nach dem zweiten Weltkrieg?«, stellte der DGB eine entscheidende Frage (www.dgb.de/erster-mai-tag-der-arbeit). Ein Blick auf die Rolle der Gewerkschaften in den letzten Monaten kann Antworten geben, woran es mangelt.
Um »die ohnehin angespannte Wirtschaft« während der Covid-19-Pandemie nicht zu schwächen, »sollten Betriebe unter Wahrung des Arbeits- und Gesundheitsschutzes geöffnet bleiben«, erklärt der DGB-Vorsitzende Reiner Hoffmann.
Wie sich dieser »Schutz« der Beschäftigten gestaltet, zeigt der wichtigste Satz der »SARS-CoV-2-Arbeitsschutzregel« unter 4.1 Abs. 3: »Soweit arbeitsbedingt die Abstandsregel nicht eingehalten werden kann und technische Maßnahmen wie Abtrennungen zwischen den Arbeitsplätzen nicht umsetzbar sind, müssen die Beschäftigten mindestens MNB zum gegenseitigen Schutz tragen.« In der Praxis bedeutet dies: Die Unternehmen behaupten, »arbeitsbedingt« sind keine Änderungen möglich, deshalb müssen Arbeitende Mund-Nasen-Bedeckung (»MNB«) tragen. »Setzen sie ihr Recht auf Abstand durch«, schrieb ein Vorstand an die Belegschaft und delegierte die Verantwortung für den Gesundheitsschutz damit von sich weg. Die Zahlen lügen nicht: »Corona-Zahlen steigen dynamischer: Kinder und Berufstätige betroffen«, meldete das Robert-Koch-Institut in der »3. Corona-Welle« laut Berliner Zeitung.
In Bologna, Neapel und Genua streikten im März 2020 Arbeiter für Betriebsschließungen als Corona-Schutzmaßnahme – Gewerkschaften hierzulande sehen ihre Aufgabe hingegen im Co-Management, um die Produktion am Laufen zu halten. Dies muss auf die Beschäftigten befremdlich wirken, denn den Arbeitern und Angestellten in den Betrieben fällt jeden Tag der Widerspruch auf, dass »Dis-tanz halten« das Maß der Dinge sein soll und private Treffen mit mehr als zwei Haushalten zu Bußgeldern führen können, während in der U-Bahn auf dem Weg zur Arbeit, in der Werkshalle oder im Großraumbüro mehr als ein Dutzend Personen zusammen sind. Während die Berufsgenossenschaften kein Problem mit den laschen Regeln der SARS-CoV-2-Arbeitsschutzbestimmungen haben, befinden sich ihre Betriebsprüfer im Homeoffice – anstatt die Unternehmen aktiv zu überprüfen. Diese Absurdität nehmen die meisten Beschäftigten wahr. Verwertung der Arbeitskraft unter Gefährdung der Gesundheit – das ist das Gegenteil von Solidarität. Die Gewerkschaften lassen Potential für Proteste ungenutzt, vielen Beschäftigten wirken sie als »Teil von denen da oben«.
Während das Weiterarbeiten aus DGB-Sicht offenbar alternativlos ist, zeigen Gewerkschaftssekretäre vor Ort kaum Präsenz. Mehr wäre möglich, denn von den Problemen wissen auch Gewerkschaftsvorstände: »Da wird von den Konzernen und den Verbänden über tolle Hygienekonzepte gesprochen, in der Praxis sieht es aber vielfach mies aus. Zum einen werden kaum Kontrollen durchgeführt. Zum anderen müssen die Betriebsräte teilweise in Einigungsstellen gegen ihren Arbeitgeber vernünftige Hygienekonzepte erkämpfen. So kann das nicht weitergehen», kritisiert der Verdi-Vorsitzende Frank Werneke – zieht aber keine Konsequenzen.
Während der DGB den 1. Mai 2020 rein virtuell organisierte, fanden im Jahr darauf Streiks der IG Metall zur Tarifrunde statt. Streiks und betriebliche Protestaktionen waren schon zu Beginn der Pandemie angebracht. Wie sehen Konzepte für Betriebsversammlungen unter Hygiene-Bedingungen aus? Wo bleibt der Online-Zugang der Gewerkschaften zum Homeoffice? Wenn die Gewerkschaften hierzulande schon nicht für Betriebsschließungen bei vollem Lohnausgleich streiken wollen, sind Forderungen nach einem Tarifvertrag zu betrieblichen Corona-Schutzmaßnahmen, Ausstattung von Arbeitsplätzen zuhause und bezahlten Pausen bei Maskenzwang zwingend.
Auch ist die Einbindung durch Ministerien zu hinterfragen. Die SARS-CoV-2-Arbeitsschutzregel wurde von den Arbeitsschutzausschüssen des Bundesarbeitsministeriums maßgeblich miterarbeitet. Auch Gewerkschafter sind Mitglieder dieser Gremien. Wenn Gewerkschaftsvertreter diese Texte vorab erhalten und feststellen, dass der Gesundheitsschutz in erster Linie im Tragen von Masken ohne Pausenregelungen besteht, kann doch niemand zur Tagesordnung übergehen. Dann müssen dies die Beschäftigten frühzeitig erfahren. Die Absurdität, dass eine Regierung »Gesundheit geht vor« propagiert, in der Praxis aber hauptsächlich das Weiterlaufen der Maschinen sicherstellen will, muss gewerkschaftliches Thema sein, muss über Aktionen in den Betrieben massiv kritisiert werden. Die Enttäuschungen über dieses Mittragen von Regierungsentscheidungen werden auch nach der Pandemie eine Mobilisierung der Belegschaften erschweren.
»Fakt ist: Nur mit Solidarität lässt sich ein Weg aus der aktuellen Situation finden«, erklärt der DGB. Aber Lippenbekenntnisse helfen nicht weiter. Die Kampagne »#ZeroCovid« fordert, Betriebe zu schließen (https://zero-covid.org). Auch Britta Rabe vom Grundrechtekomitee fordert völlig zu Recht: »Die Sinnhaftigkeit des Abstandhaltens ist derzeit einleuchtend, eine Kontaktsperre ist dabei auch verhältnismäßiger als eine komplette Ausgangssperre. Damit Menschen sich daran halten können, müssen aber die entsprechenden Voraussetzungen geschaffen werden. Beispielsweise bräuchte es vor allem eine finanzielle Absicherung für alle Arbeitenden, damit sie nicht weiterhin Jobs verrichten müssen, in denen sie einem hohen Ansteckungsrisiko ausgesetzt sind. Diejenigen, deren Arbeit aktuell unverzichtbar ist, müssen zudem ausreichend geschützt werden.« Gemeinsam kämpfen, betriebliche Kämpfe vernetzen – das wäre Solidarität in der Praxis.