Skip to content

Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

Menu
Menu

Was wird aus der Ukraine?

Demo­sthe­nes nahm Stei­ne in den Mund und übte Reden gegen eine stö­ren­de Sprach­be­hin­de­rung. Er soll nach unend­lich vie­len Übun­gen einer der besten Red­ner des Alter­tums gewor­den sein. Reden war in der athe­ni­schen Ver­samm­lung außer­or­dent­lich wich­tig, um die Mei­nun­gen der anwe­sen­den Hörer und ggf. Rich­ter beein­flus­sen zu können.

Heu­te neh­men zahl­lo­se Men­schen die Wor­te Frei­heit und Demo­kra­tie in den Mund und üben sich dar­in, den Erwar­tun­gen der EU und USA gerecht zu wer­den, jeden­falls soweit es die Aus­sa­gen angeht. Tat­säch­lich wol­len sie ledig­lich reich wer­den, um an allen Kon­sum­gü­tern und Ver­gnü­gun­gen teil­ha­ben zu kön­nen, die sich in die­ser Regi­on über Jahr­zehn­te her­aus­ge­bil­det haben. Ach, wenn sie doch nur die Kehr­sei­ten des Reich­tums an dem einen Ende und die Aus­beu­tung und Unter­ent­wick­lung am ande­ren Ende wahr­neh­men wür­den. Allein am Arbeits­fleiß und an der tech­no­lo­gi­schen Über­le­gen­heit der west­li­chen Indu­strie lag es jeden­falls nicht. Sonst wür­de man nicht wie das Kanin­chen auf Chi­na gucken und über das sog. De-ris­king die Glo­ba­li­sie­rung des Han­dels zurück­fah­ren. Das erin­nert an die erfolg­rei­chen Jah­re der bri­ti­schen Indu­strie und der damit ver­bun­de­nen Ideo­lo­gie des Frei­han­dels, der nur so lan­ge Gel­tung behal­ten soll­te, als das bri­ti­sche Welt­reich sich im Vor­teil sah.

Wir wol­len es ja selbst nicht im Bewusst­sein zulas­sen, dass wir abhän­gig sind von bil­li­gen Ener­gie­im­por­ten und nied­rig-prei­si­gen Roh­stof­fen, damit unser Selbst­bild der Erfolg­rei­chen nicht beschä­digt wer­de. Wir wis­sen oder könn­ten es wis­sen, dass das Zeit­al­ter des Kolo­nia­lis­mus nicht been­det ist. Ob die nach wie vor aus­ge­beu­te­ten Gebie­te West­afri­ka oder Neu­ka­le­do­ni­en oder Mit­tel­ame­ri­ka hei­ßen, kann hier außen vor blei­ben. Auf jeden Fall sind end­los vie­le Län­der, die Pro­duk­te aus Euro­pa kau­fen, mei­len­weit vom Reich­tum ent­fernt und müs­sen durch z. T. unfai­re Ver­trä­ge ihre Res­sour­cen bil­lig abge­ben, wie etwa in den Fische­rei­ab­kom­men mit dem Senegal.

Und nun die Ukrai­ne. Sie woll­te sich mit der Eli­te und der Sou­ve­rä­ni­tät im Gepäck nach Westen, also zum Reich­tum hin ori­en­tie­ren, und die Men­schen ahnen viel­leicht lang­sam, dass sie sich nur in eine neue Abhän­gig­keit, nicht zuletzt wegen der spä­ter zu bedie­nen­den Kre­di­te, bege­ben haben.

Wir ken­nen in Deutsch­land noch die Ver­spre­chun­gen blü­hen­der Land­schaf­ten nach einem Regime­wech­sel in den neu­en Bun­des­län­dern, die sich aller­dings nur rudi­men­tär ein­ge­stellt haben. Gro­ße Indu­strie­be­trie­be wur­den von der Treu­hand­an­stalt abge­wickelt, weil ihnen der Zeit­ho­ri­zont zur Umstel­lung ihrer Absatz­be­zie­hun­gen nicht gege­ben wur­de. Aus­ge­bil­de­te Indu­strie­öko­no­men wur­den nicht mehr benö­tigt und kei­ne Kran­füh­rer mit Abitur. Die so ihrer alten Aus­bil­dung beraub­ten Arbeit­neh­mer muss­ten teils sehr wei­te Strecken pen­deln, um sich in der alten Bun­des­re­pu­blik als Arbeits­kräf­te ver­din­gen zu kön­nen. Legt man die Unter­schei­dung von Max Weber zugrun­de, so hat­ten sie ein mehr an for­ma­ler Frei­heit gewon­nen, aber nicht ein Mehr an mate­ri­el­ler Frei­heit. Denn Arbeit­neh­mer kön­nen nicht Jah­re auf ein lukra­ti­ves Gehalts­an­ge­bot war­ten. Das täg­li­che Leben bedeu­tet unauf­schieb­ba­re Kosten, die bezahlt wer­den müssen.

Und nun die Ukrai­ne. Städ­ti­sche Regio­nen wer­den sicher einen Auf­schwung zu ver­zeich­nen haben, solan­ge dort die Lohn­for­de­run­gen unter denen im Westen blei­ben, denn sonst wür­de sich der Trans­port von Gütern über lan­ge Strecken kaum rech­nen. IT-Spe­zia­li­sten wer­den ein siche­res Aus­kom­men haben. Aber bereits die aus­ge­bil­de­ten Ärz­te und Pfle­ge­kräf­te müs­sen in Rich­tung der Zen­tren in der EU abwan­dern, weil dort gute Ein­kom­men war­ten und eine hohe Nach­fra­ge herrscht. Wer bleibt als Spe­zia­list also in der Ukrai­ne und war­tet eine Gene­ra­ti­on lang auf den erhoff­ten wirt­schaft­li­chen Aufschwung?

Die Groß­stadt Char­kiw bei­spiels­wei­se wird ver­küm­mern, weil ihr das Hin­ter­land zah­lungs­kräf­ti­ger Nach­fra­ger feh­len wird. Die EU wird zwar ähn­li­che Instru­men­te ent­wickeln, wie sie aus der Zonen­rand­för­de­rung in der alten Bun­des­re­pu­blik bekannt sind, deren Wir­kun­gen aber nie zu einem nach­hal­ti­gen Wirt­schafts­auf­schwung in die­sen Regio­nen geführt haben. Char­kiw wird ganz im Osten der EU lie­gen mit Pan­zer­sper­ren und Sta­chel­draht sowie Todes­strei­fen und zu räu­men­den Minen­gür­teln, die Unsum­men an Geld ver­schlin­gen wer­den. Wie wird man also in Char­kiw leben, weit weg von den Zen­tren wie Wien, Mün­chen oder Brüssel?

Setzt sich nach dem hei­ßen dann ein Kal­ter Krieg fest, kann sich wei­ter kei­ne Metro­pol­re­gi­on ent­wickeln, wie wir sie bei uns ken­nen etwa im Raum Aachen mit wirt­schaft­li­chem Ver­kehr tief ins nie­der­län­di­sche und bel­gi­sche Gebiet hin­ein. Mit den zukünf­tig zu erwar­ten­den Kon­flik­ten im Agrar­be­reich um die Zutei­lung von Mit­teln aus dem EU-Agrar­haus­halt sowie den end­lo­sen büro­kra­ti­schen Anfor­de­run­gen ver­schwin­den klei­ne bäu­er­li­che Betrie­be, wie man es in Polen vor Jahr­zehn­ten beob­ach­ten konn­te. Der Druck zur Land­flucht wird stei­gen und der Wett­be­werb um weni­ge gut bezahl­te Jobs zuneh­men. Fran­zö­si­sche und deut­sche Bau­ern wer­den sich ihre Fleisch­töp­fe nicht schlei­fen las­sen, und wenn, dann wer­den die­se Men­schen mit radi­ka­len Ideen ant­wor­ten, wie es zur­zeit schon beob­ach­tet wer­den kann.

Der ukrai­ni­sche Staat wird auf­grund der nach dem Krieg zu erwar­ten­den hohen Ver­schul­dung nur eine gerin­ge Hand­lungs­fä­hig­keit haben. Der IWF wird alte Kre­di­te aus der Zeit noch vor dem Mai­dan ein­trei­ben wol­len, die USA wol­len ihr Geld nach dem »Lend- and Lease«-Gesetz zurück­for­dern. Nur zur Erin­ne­rung: Groß­bri­tan­ni­en hat­te im Jahr 2000 die letz­te Rate der Kriegs­kre­di­te der USA aus dem zwei­ten Welt­krieg bezahlt. Wie bei allen unter­ent­wickel­ten Län­dern kom­men dann sicher Schul­den­schnit­te in den Dis­kus­sio­nen vor. Aber die gro­ßen pri­va­ten Inve­sto­ren wer­den auf kei­nen Cent ver­zich­ten und bei grö­ße­rer Unsi­cher­heit ihrer Invest­ments nur die Aus­beu­tung ver­schär­fen. Jetzt bereits bestehen­de Unter­neh­men z. B. im Süß­wa­ren­be­reich wer­den auf­ge­kauft und über Hedge­fonds gründ­lich aus­ge­saugt. Das Eigen­tum an inter­es­san­ten Indu­strie­be­trie­ben wird sich inter­na­tio­na­li­sie­ren, d. h. Kapi­tal wan­dert ein und sucht nach fet­ten Renditen.

Die wirt­schaft­li­chen Aus­sich­ten der Ukrai­ne als Mit­glied einer EU sehen also kei­nes­wegs rosig aus, und den erwar­te­ten und erhoff­ten Zugang zum Reich­tum wird es nicht geben. Ein biss­chen Tou­ris­mus an der Schwarz­meer­kü­ste kann dem nicht abhel­fen. Denn die­ser Kuchen wird für den gesam­ten Westen kei­nes­wegs mehr wach­sen, weil die wirt­schaft­li­che Trans­for­ma­ti­on im Zuge der Kli­ma­kri­se sehr viel Geld kosten wird, wel­ches für den Kon­sum nicht noch ein­mal aus­ge­ge­ben wer­den kann. Der Rei­se­welt­mei­ster Deutsch­land wird sich in Zukunft eben­falls beschei­de­ne­re Zie­le set­zen. Die geop­fer­ten Men­schen von heu­te wer­den sich mit Grau­sen von ihren ein­sti­gen Hoff­nun­gen abwen­den und die heh­ren Wor­te »Frei­heit und Demo­kra­tie« nicht mehr gern im Mun­de füh­ren. Etli­che wer­den sich natür­lich in ihrem erlern­ten und medi­al for­cier­ten Natio­na­lis­mus ein­rich­ten und den Rus­sen die Schuld an ihrem Elend geben, wodurch die poten­ti­el­len wirt­schaft­li­chen Bezie­hun­gen dort­hin für lan­ge Zeit ver­schüt­tet wer­den. Soweit Olig­ar­chen ihre Ver­mö­gen ret­ten kön­nen, eröff­net sich ihnen im Raum der EU ein wei­tes Betä­ti­gungs­feld. Davon wer­den die Men­schen vor Ort kei­nen Vor­teil haben