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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Von der Kraft der Worte

Der Pro­pa­gan­da-Krieg im Gefol­ge des Über­falls auf die Ukrai­ne lei­tet jeden Tag Was­ser auf die Müh­len der Holo­caust-Leug­ner und trägt zu allem Über­fluss dazu bei, dass ein histo­risch eben­falls bedeut­sa­mes Ereig­nis voll­stän­dig in den Hin­ter­grund gerät, der Umgang mit der Ver­trei­bung der Deut­schen nach dem Zwei­ten Welt­krieg und sei­ne Aus­wir­kun­gen auf das Ver­hält­nis zwi­schen Ost und West.

Zu Recht beschwer­te sich der Prä­si­dent des Zen­tral­ra­tes der Juden in Deutsch­land, Josef Schu­ster, in der Süd­deut­schen Zei­tung vom 9. Novem­ber 2022 dar­über, dass in rechts­ra­di­ka­len Krei­sen behei­ma­te­te revi­sio­ni­sti­sche Strö­mun­gen vom bür­ger­li­chen Lager auf­ge­grif­fen wür­den. Er ver­wies auf einen Bei­trag des renom­mier­ten Histo­ri­kers Wolf­gang Rein­hard in der Frank­fur­ter All­ge­mein Zei­tung vom Janu­ar, in dem von einem »Recht auf Ver­ges­sen« die Rede gewe­sen sei.

Sol­che wort­mäch­ti­gen Stim­men gegen das Ver­ges­sen des Miss­brauchs der Ver­trei­bun­gen feh­len heu­te, gäbe es nicht das ful­mi­nan­te Werk der Histo­ri­ke­rin Eva Hahn und des Histo­ri­kers Hans Hen­ning Hahn: »Die Ver­trei­bung im deut­schen Erin­nern«, das bei den poli­tisch Ver­ant­wort­li­chen und den Haupt­me­di­en der Bun­des­re­pu­blik jedoch ohne Echo geblie­ben ist (Fer­di­nand Schö­ningh Ver­lag, Pader­born, Mün­chen, Wien, Zürich, 2010).

Kürz­lich erleb­te der fast 900 Sei­ten umfas­sen­de Band in Tsche­chi­en eine Neu­auf­la­ge in der Lan­des­spra­che, was ange­sichts der über Jahr­zehn­te hin­weg gespann­ten Bezie­hun­gen zwi­schen Ber­lin und Prag nicht hoch genug ver­an­schlagt wer­den kann. Die Ver­trei­bung der drei Mil­lio­nen Deut­schen hat auch bei den Tsche­chen tie­fe Spu­ren hin­ter­las­sen. In einem Brief an Eva Hahn schreibt der 1976 gebo­re­ne tsche­chi­sche Histo­ri­ker Mich­al Téra, mit beson­de­rem Inter­es­se habe er das Kapi­tel über Kurt Nel­hie­bel und sein Gedicht »In der alten Hei­mat« gele­sen, das ihm den Atem genom­men habe.

Es beschrei­be eine Gegend, aus der er sel­ber stam­me. In dem Gedicht wür­den sich die Ein­drücke und Erfah­run­gen eines um zwei Gene­ra­tio­nen älte­ren Men­schen mit sei­nem eige­nen Erle­ben über­schnei­den und berüh­ren. Das Gedicht beein­drucke ihn unge­mein. Er sehe die Land­schaft jetzt nicht nur mit den eige­nen Augen, son­dern auch mit den Augen eines Men­schen, der frü­her dort zu Hau­se war. Ver­stärkt wer­de die Wir­kung des gemein­sa­men Bil­des durch den Umstand, dass der Dich­ter ein Deut­scher sei.

Seit sei­ner Kind­heit lebe er mit einem Gefühl der Unver­ein­bar­keit im Begrei­fen und Erle­ben der eige­nen Hei­mat, schreibt Mich­al Téra, waren da doch die unüber­seh­ba­ren Spu­ren eines ver­schwun­de­nen Vol­kes. Für vie­le sei­ner Alters­ge­nos­sen sei das Auf­decken der deut­schen Vor­ge­schich­te so etwas wie die Suche nach einer unter­ge­gan­ge­nen Zivi­li­sa­ti­on. »Für mich ist es eine per­ma­nen­te und manch­mal auch quä­len­de Fra­ge, inwie­fern ich den Anspruch erhe­ben kann, was hier ›tsche­chisch‹ und was hier ›deutsch‹ sei.« Die­se gedank­li­che Wand in sei­nem Kopf habe das Gedicht besei­tigt. Es beschrei­be ein Emp­fin­den gegen­über der Hei­mat, das auch er in sich trage.

Ich schrieb das Gedicht 1991 nach der Rück­kehr von einer Rei­se in die alte Hei­mat, die ich nach dem Zwei­ten Welt­krieg unge­ach­tet mei­ner Geg­ner­schaft zum Nazi­re­gime mit einem Sam­mel­trans­port deut­scher Anti­fa­schi­sten ver­las­sen habe. Dass ich im Westen Deutsch­lands auf die alten Wider­sa­cher traf, mach­te mich zum ent­schie­de­nen Kri­ti­ker des offi­zi­el­len Umgangs mit der Ver­trei­bung der Deut­schen aus der Tsche­cho­slo­wa­kei und Polen. Mein Kampf gegen die Unbe­lehr­ba­ren von einst bil­det das Schluss­ka­pi­tel in dem ein­gangs erwähn­ten Buch über die Ver­trei­bung im deut­schen Erin­nern. Dort haben Eva und Hans Hen­ning Hahn auch das Gedicht »In der alten Hei­mat« unter­ge­bracht, das ein bemer­kens­wer­tes Echo bei einem tsche­chi­schen Histo­ri­ker der jün­ge­ren Gene­ra­ti­on gefun­den hat.

Dass die Erfor­schung der histo­ri­schen Ursa­chen des so genann­ten Abschubs der deut­schen Min­der­hei­ten aus der Tsche­cho­slo­wa­kei und aus Polen, die in dem Werk von Eva und Hans Hen­ning Hahn einen brei­ten Raum ein­nimmt, in der Bun­des­re­pu­blik auf tau­be Ohren gesto­ßen ist, bleibt eine noch zu til­gen­de Schan­de der deut­schen Historikerzunft.

In der alten Heimat
Lan­ge suche ich im grau­en Gesicht
der engen Gassen
nach einem Zei­chen der Vertrautheit,
aber die Steine
sehen mich teil­nahms­los an.
Kalt fährt es mir unvermittelt
durchs Herz –
hier hast du nichts mehr verloren.

Drau­ßen dann, vor der Stadt,
das unver­gleich­li­che Bild
der böh­mi­schen Landschaft.
Nir­gend­wo sonst entflammt
der Sep­tem­ber das Ahornlaub
so in leuch­ten­dem Rot,
ver­strömt so ver­schwen­de­risch die Erde
ihr Blut an den herbst­li­chen Himmel.

Wie in der Dünung eines güti­gen Ozeans
wie­gen rost­far­be­ne Felder
sich von Hügel zu Hügel,
und der fri­sche Acker duftet
wie in den Tagen der Kindheit.
Behut­sam legt die Erinnerung
ihren Arm um mich,
und lässt mich die Kälte
des Abschieds vergessen.