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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Verzaubert

Nein, ich ken­ne mei­ne Gren­zen. Von mei­nen Klet­ter­tou­ren in den Dolo­mi­ten weiß ich, dass man Ber­gen mit Respekt begeg­nen muss. Und wenn ich auch schon auf einem Fast-Drei­tau­sen­der am Gip­fel­kreuz stand, die­ser Berg ist mir zu hoch, und die Luft da oben zu dünn, als dass ich mich hin­auf­wa­gen dürf­te. Das über­las­se ich Beru­fe­ne­ren, ehe­ma­li­gen oder noch leben­den: Mar­cel Reich-Ranicki zum Bei­spiel, dem streit­lu­sti­gen und all­ge­gen­wär­ti­gen Buch­prü­fer; oder dem tie­fen­se­zie­ren­den Micha­el Maar, der schon 1995 in »Gei­ster und Kunst« ver­bor­ge­nen Spu­ren und gehei­men Pfa­den in die­sem Berg folg­te; oder dem fein­sin­ni­gen Ordi­na­ri­us Wal­ter Jens; oder den Heer­scha­ren von Phi­lo­lo­gen, Kri­ti­kern und Lite­ra­tur­hi­sto­ri­kern, die sich an die­sem »Berg« versuchten.

Sicher­lich haben Sie schon bemerkt, dass es sich hier um kei­nen »nor­ma­len« Berg han­delt, zu dem man sich des Mor­gens auf­macht und von dem man am frü­hen Abend zurück­kehrt. Der Weg zu die­sem Berg, das erste Kapi­tel also, ist mit »Ankunft« über­schrie­ben. Es ist »einer der berühm­te­sten Anfän­ge der Weltliteratur«.

»Ein ein­fa­cher jun­ger Mensch rei­ste im Hoch­som­mer von Ham­burg, sei­ner Vater­stadt, nach Davos-Platz im Grau­bün­di­schen.« Sein Ziel ist das Inter­na­tio­na­le Sana­to­ri­um »Berg­hof«. Hans Cas­torp, dies ist der Name des jun­gen Man­nes, »fuhr auf Besuch für drei Wochen« ins Hoch­ge­bir­ge. Dar­aus wur­den schließ­lich sie­ben Jah­re in der abge­schie­de­nen Welt des Schwei­zer Sana­to­ri­ums für Lun­gen­kran­ke, denn: »Zeit, sagt man, ist Lethe«. Erst recht auf einem Zau­ber­berg.

Im Novem­ber des Jah­res 1924 ist Tho­mas Manns »Jahr­hun­der­t­ro­man aus Davos«, wie der Lite­ra­tur­wis­sen­schaft­ler Tho­mas Sparr sein Buch »Zau­ber­ber­ge« unter­ti­telt hat, erschie­nen. Der in Ham­burg gebo­re­ne Sparr hat­te wäh­rend sei­ner Schul­zeit in Lübeck den Zau­ber­berg zum ersten Mal gele­sen und somit »früh erfah­ren, dass die Lek­tü­re die­ses Buches auf beson­de­re Wei­se ver­zau­bert«. Die­sem Zau­ber ging er jetzt nach, und zwar im Febru­ar die­ses Jah­res in zwei Vor­trä­gen, vor­mit­tags in der Schwei­ze­ri­schen Alpi­nen Mit­tel­schu­le in Davos und abends zur Eröff­nung von »100 Jah­re Der Zau­ber­berg« am Kul­tur­platz Davos. Die­se Vor­trä­ge lie­gen sei­nem Buch zu Grunde.

Wäh­rend aber »Gene­ra­tio­nen von Ger­ma­ni­sten Moti­ve, Bil­der, Meta­phern vom Zau­ber­berg erforscht, ent­deckt, her­ge­lei­tet und die Deu­tun­gen ande­rer ver­wor­fen haben oder ihnen gefolgt sind«, dabei stets vor Augen, dass »die Arbeit im Innern des Zau­ber­bergs eine lang­wie­ri­ge ist, weit reicht und immens ist«, geht Sparr einen ande­ren Weg. Er lie­fert sozu­sa­gen, um im Ein­gangs­bild zu blei­ben, die Steig­ei­sen zum Erklim­men des Berges.

Sein Trick: Er ent­warf ein Alpha­bet des Zau­ber­bergs. Die Rei­hen­fol­ge der Bei­trä­ge sind dem Zufall des ABC geschul­det, man­che sind län­ger, ande­re eher kurz. Die­se Form der Dar­stel­lung erin­nert an die »Welt aus Buch­sta­ben«, dem »Gestein«, aus dem der Zau­ber­berg besteht. Und an den Tho­mas-Mann-Weg in Davos, der zur Schatz­alp hin­auf­führt, wo das Sana­to­ri­um lag, das den Autor inspi­riert hat: »Ent­lang die­ses Wegs hat man Schil­der mit den wich­tig­sten Zita­ten aus dem Zau­ber­berg auf­ge­stellt. Sie spre­chen zu jedem, der zufäl­lig oder absichts­voll den Weg ent­lang­geht. Von A bis Z schafft die­ser Roman ein eige­nes Alphabet.«

Zuvor aber, für alle, die den Roman (noch) nicht gele­sen haben, um was geht es eigent­lich? Ich zitie­re zusam­men­fas­send: »Kein Roman erfasst die Erschüt­te­run­gen des 20. Jahr­hun­derts so wie Tho­mas Manns Zau­ber­berg, der ein Pan­ora­ma der euro­päi­schen Welt ent­fal­tet, ihrer Men­schen und der beschleu­nig­ten Zeit mit all den Neue­run­gen und Erfin­dun­gen, dem um sich grei­fen­den Natio­na­lis­mus, dem Anti­se­mi­tis­mus, dem Gegen­satz von Ost und West, dem ›Don­ner­schlag‹ des Ersten Welt­kriegs und den frü­hen 1920er Jah­ren. Die The­men des Romans sind unse­re: der Schnee, der heu­te nicht mehr so fällt wie damals; das Zwie­licht der Geschlech­ter; die kon­fu­se Sexua­li­tät des Men­schen; die Demo­kra­tie und vie­les mehr.«

Sparrs alpha­be­ti­scher Leit­fa­den reicht von der Ankunft und der ersten Nacht Cas­torps in dem Gebirgs­dorf – »vol­ler Hin­wei­se und Zei­chen auf das, was ihn und die, die über ihn lesen wer­den, erwar­tet« – über das Stich­wort »Blei­stift« – mit dem uns »der Erzäh­ler auf eine Spur lenkt, die sonst im Roman nicht zur Spra­che kommt, obwohl sie das gan­ze Werk durch­zieht: die Homo­se­xua­li­tät« –wei­ter zum Stich­wort »Demo­kra­tie«, was für Sparr »das Schlüs­sel­wort des Romans« ist. In ihm wider­spie­gelt sich auch die Wand­lung des poli­ti­schen Tho­mas Mann wäh­rend der zwölf­jäh­ri­gen Ent­ste­hungs­zeit des Wer­kes und damit sei­ne Abkehr von den teils reak­tio­nä­ren Betrach­tun­gen eines Unpo­li­ti­schen, mit denen er, anders als sein Bru­der Hein­rich, die Kriegs­po­li­tik des deut­schen Rei­ches im Ersten Welt­krieg unterstützte.

»Gesund­heit« ist ein wei­te­res Schlüs­sel­the­ma: Sie »ist in die­sem Roman so etwas wie die leib­li­che Sei­te der Demo­kra­tie: als Aus­druck von Mit­te und Mäßi­gung«. Eben­so »Huma­ni­tät«: »Die Über­schnei­dun­gen von Huma­ni­tät und Demo­kra­tie lie­gen bei die­sem Autor auf der Hand. (…) Das Wort Huma­ni­tät bei Tho­mas Mann erklingt als Postu­lat. Er wirbt darum.«

Und so führt Sparr sei­ne Lese­rin­nen und Leser durch sein 26 Buch­sta­ben umfas­sen­des Alpha­bet. Ver­gnüg­lich und mit Gewinn zu lesen, ein kurz­wei­li­ger Leit­fa­den, egal ob man sich zum ersten oder zum wie­der­hol­ten Male auf die Tour zum Zau­ber­berg begibt.

 Tho­mas Sparr: Zau­ber­ber­ge – Ein Jahr­hun­der­t­ro­man aus Davos, Beren­berg, Ber­lin 2024, 80 S., 22 €.