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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Über die Nützlichkeit von Tierfabeln

Frü­her ein­mal war das Über­tra­gen mensch­li­chen Han­delns auf Tier­fa­beln ein pro­ba­tes Mit­tel, etwa um die nach­fol­gen­de Rache der Herr­schen­den zu ver­mei­den. Doch es ist m.E. noch mehr, näm­lich eine Chan­ce, kom­pli­zier­te Zusam­men­hän­ge ver­ständ­lich zu machen. Neh­men wir mal den Löwen als Bei­spiel: Er ist einer der gro­ßen Räu­ber, aber nicht der ein­zi­ge. Doch wer es wagen soll­te, in sei­nem Jagd­re­vier zu wil­dern, wird sei­ne Stra­fe zu spü­ren bekom­men – ob Leo­pard, Hyä­ne oder Scha­kal. Ja, er dehnt sein Jagd­ge­biet so weit aus, wie es mög­lich ist, ver­scheucht alle ande­ren Raub­tie­re, damit er sich rich­tig voll­fres­sen kann. Doch was ist, wenn sein Jagd­ge­biet zu groß wird: Kann er es dann noch über­blicken, geschwei­ge denn unter Kon­trol­le hal­ten? Frü­her oder spä­ter wird er sich ver­zet­teln; sei­ne Löwin­nen het­zen sich selbst zu Tode, um ihn zu ver­sor­gen; ande­re Raub­tie­re wer­den sich breit­ma­chen und mög­li­cher­wei­se die gan­ze Löwen­ban­de zur Strecke bringen.

Sie mei­nen, das ist ein sehr win­di­ges Bei­spiel? Na gut, bele­gen wir es mit ein paar Fak­ten: Die mensch­li­che Gesell­schaft hat bis­her vie­le Groß­rei­che erlebt: von den Per­sern über das Römi­sche Reich bis zu den Mon­go­len. Die mei­sten ende­ten durch Über­deh­nung ihres Herr­schafts­be­reichs. Der momen­ta­ne Löwe in der Welt­po­li­tik dehnt sein Revier bestän­dig aus. Nicht alle Kon­flik­te muss er selbst aus­tra­gen; oft sol­len das ande­re für ihn tun. Aber es braucht dafür auch nicht immer einen Krieg: Das Arse­nal an »nicht­di­plo­ma­ti­scher Ein­fluss­nah­me« reicht von Kor­rum­pie­rung von Staa­ten über fal­sche Ver­spre­chen oder Lügen, über Bünd­nis­se bis zu Sabo­ta­ge und Auf­wie­ge­lung klei­ner eth­ni­scher Grup­pen. Und wenn man eben »nur« genug Waf­fen in die Kri­sen­ge­bie­te liefert …

Heut­zu­ta­ge kann sich der Löwe nicht mehr alles erlau­ben – das Leben läuft in geord­ne­ten Bah­nen, man hat sich mit ande­ren Spe­zi­es geei­nigt, und ein paar davon stär­ken dem Löwen sogar die Flan­ken. Nein, die­se sind auch kei­ne Harm­lo­sen, son­dern eben­falls Raub­tie­re – das liegt allen jenen im Blut! Und irgend­wann bricht die­ser Drang durch; man sieht es gera­de in Süd­ost­asi­en, in Ost­eu­ro­pa, im Nahen Osten, im Grenz­ge­biet zwi­schen Iran und Paki­stan, auch in Tei­len von Afri­ka. Und dann erfin­den die­se Raub­tie­re jedes Mal ganz tol­le Aus­re­den, um ihre Attacken zu recht­fer­ti­gen, dass er ja über­haupt nicht anders gin­ge als … Sie erfin­den also ihre eige­nen Wer­te, nach denen sich die ande­ren zu rich­ten haben!

Aber es geht nicht nur um bru­ta­le, deut­lich sicht­ba­re Attacken, son­dern auch um vie­le klei­ne Nadel­sti­che: Ob man ande­ren den Weg zur Was­ser­stel­le blockiert oder an deren Schlaf­baum pin­kelt – so etwas geht immer!

Doch der Löwe will auch sei­ne Mit­läu­fer auf Distanz hal­ten! Dafür hat er sei­ne Trick­ki­ste schon ziem­lich weit geöff­net: das Weg­bei­ßen von den Fut­ter­quel­len, das Aus­trick­sen des einen gegen den ande­ren, also Zwie­tracht zwi­schen den Fresskumpels …

Aber da ist immer noch die­ser Hun­ger: nach Roh­stof­fen, nach bil­li­gen Pro­du­zen­ten, nach Vor­macht­stel­lung – und dar­in glei­chen sich wie­der alle die­se Raub­tie­re! Dafür wür­den sie selbst einen rie­si­gen Bären angrei­fen! Denn ein­mal konn­ten sie den Bären­kopf schon ver­ne­beln (oder hat er sich selbst bene­belt?) und ihm eini­ges ent­rei­ßen … Das klapp­te dann nicht mehr – und seit­dem ist der Bär der Böse, der Feind schlecht­hin! Und sie schli­chen sich immer dich­ter an ihn her­an, bequatsch­ten und sta­chel­ten ande­re an, um bis vor sei­ne Höh­le zu gelan­gen – und die­se ande­ren waren sogar echt so naiv, dem Löwen zu glau­ben … Wuss­ten sie nicht, was ein Löwe ist?!

Aber zurück aus dem Reich der Fabeln in die rea­le Welt: Das west­li­che Mili­tär­bünd­nis gelangt schon an sei­ne Gren­zen, wenn es Kriegs­par­tei oder »nur« Steig­bü­gel­hal­ter in gera­de mal einem lokal begrenz­ten Kriegs­herd ist. Dies pas­siert nicht zum ersten Mal, son­dern mehr­fach seit dem 2. Welt­krieg: Korea, Viet­nam, Afgha­ni­stan und jetzt in der Ukrai­ne. Bei meh­re­ren Brand­her­den wäre das Bünd­nis über­for­dert – nein, schlim­mer noch: Die Welt­macht­träu­me sind schon in den letz­ten zwei Jah­ren im Ukrai­ne-Kon­flikt zer­schellt – stra­te­gisch und waf­fen­mä­ßig. Und wer jetzt noch vor­hat, in Süd­ost­asi­en zün­deln zu müs­sen und gleich­zei­tig im Nahen Osten ein­zu­grei­fen – fehlt da nicht ein gewis­ser Rea­li­täts­be­zug? Natür­lich! Doch das wird über­tüncht durch Pro­pa­gan­da mit Sie­ges­fan­fa­ren – wie schon seit dem alten Ägyp­ten üblich. War das Brecht, der schrieb: »dass nicht sein kann, was nicht sein darf«?

Jen­seits der Mei­nungs­ma­che gibt es jedoch viel wich­ti­ge­re, weil tat­säch­lich ablau­fen­de Vor­gän­ge. Zum einen: Vie­le Län­der lösen sich von der Vor­mund­schaft des Wer­te­we­stens, ange­fan­gen vom west­li­chen Afri­ka bis nach Ost­asi­en – und es sind nicht unbe­dingt arme Län­der! Als eine Art »Kon­den­sa­ti­ons­kern« fun­giert hier­bei das BRICS-Bünd­nis. Die­ser Zusam­men­schluss ist nicht nur poli­tisch unter­mau­ert (als Alter­na­ti­ve zum Wer­te­we­sten), son­dern auch finan­zi­ell sehr bedeut­sam: Ver­schie­de­ne Län­der han­deln unter­ein­an­der nicht mehr auf Dol­lar-Basis, son­dern mit loka­len Wäh­run­gen. Je inten­si­ver dies geschieht, desto weni­ger Bedeu­tung hat der Dol­lar welt­weit, desto stär­ker wir­ken finan­zi­el­le Schwan­kun­gen der USA sich welt­weit aus. Wer jedoch davon abge­kop­pelt ist (zumin­dest teil­wei­se), den tan­gie­ren sol­che Schwan­kun­gen weni­ger. Wie man heu­te sieht, haben die SWIFT-Beschrän­kun­gen Russ­land nicht wesent­lich gescha­det; die Koope­ra­ti­on mit Chi­na läuft stark mit­tels Yen und Rubel; die Maß­nah­men der Sank­tio­nie­rer haben kei­ne gro­ße Wir­kung gezeigt.

Ein wei­te­rer Aspekt: Der Wer­te­we­sten ist auf den Rest der Welt ange­wie­sen – sei es, um Bana­nen zu impor­tie­ren oder sel­te­ne Erden, sei es für den Export ihrer Fer­tig­wa­ren. Schon die­se wei­ni­gen gro­ben Zusam­men­hän­ge zei­gen, dass man dies nur unter gleich­be­rech­tig­ten Part­nern tun kann – ohne Han­dels­dik­ta­te (Kuba-Blocka­de), ohne Straf­zöl­le (von USA gegen zig ande­re Län­der), ohne Finanz­tricks (Gold-Blocka­de gegen­über Vene­zue­la und Westafrika).

Neben vie­len Län­dern, die sich abkop­peln, gibt es jedoch auch die, die jede Abwei­chung von der Linie der USA ver­dam­men. Ja, mehr noch: Sie las­sen sich stra­te­gisch wich­ti­ge Infra­struk­tu­ren zer­trüm­mern, ohne sich dar­um zu sche­ren! Dass sie sich damit roh­stoff­sei­tig und öko­no­misch in eine unge­heu­re Abhän­gig­keit bege­ben – das wird alles »weg­ge­lä­chelt« (oder gegrinst?). Ob sich Euro­pas Groß­kon­zer­ne gegen die aktu­el­le Poli­tik stel­len, ob Mil­lio­nen dage­gen pro­te­stie­ren – es ist kei­ne Ände­rung in Sicht! Lie­ber noch­mal dicke Mil­li­ar­den in die Ukrai­ne geschickt – oder bleibt das Staats­geld doch hier im Lan­de, nur in ande­ren Taschen, z. B. der Rüstungs­kon­zer­ne? Hieß es nicht so ähn­lich aus dem US-Außenministerium?

Nun könn­te man mut­ma­ßen, dass die USA mit guten Dol­lar-Sprit­zen ande­re Län­der wie­der an sich bin­den. Aber woher soll das Geld kom­men – das Staats­säckel der USA ist leer. Schlim­mer noch: Die Schul­den­last ist so rie­sig wie das Brut­to­in­lands­pro­dukt meh­re­rer ent­wickel­ter Staa­ten in Summe!

Viel­leicht haben fin­di­ge Köp­fe schon eine Simu­la­ti­on pro­gram­miert, wie sich die­se genann­ten Abläu­fe in Zukunft ent­wickeln könn­ten – die Poli­ti­ker-Kaste scheint dies nicht gemacht zu haben.

Ein­zel­ne Arti­kel zur US-Poli­tik haben zumin­dest die Ent­wick­lung in der Ukrai­ne etwas rea­li­sti­scher reflek­tiert. Doch dies ist ja nur eine der poli­ti­schen »Bau­stel­len« – wie wird es mit den ande­ren Kon­flikt­her­den wei­ter gehen? Wie der Wer­te­we­sten sehen kann: Nie­mand kann die Rol­le des »Welt­gen­dar­men« aktu­ell wie­der­be­le­ben. Um auf die Fabeln zurück­zu­kom­men: Die­ser Macht­hun­ger ist trotz­dem noch da! Und wenn ein Raub­tier aus­ge­hun­gert ist, ist es gie­ri­ger auf Fres­sen als im sat­ten Zustand. Viel­leicht kann es kei­nen Krieg mehr ris­kie­ren, aber Sabo­ta­ge, Ver­leum­dung, Geheim­ope­ra­tio­nen gehen wohl immer …