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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Les Jeux sont faits

Wenn ich tief hin­ab­stei­ge zu den von den fol­gen­den Jahr­zehn­ten fast ver­schüt­te­ten Erin­ne­run­gen, höre ich wie aus wei­ter Fer­ne ein Klackern und Ras­seln und sehe mich als jun­gen Mann, sche­men­haft wie in einer außer­kör­per­li­chen Wahr­neh­mung, in der Ecke einer klei­nen Gast­stät­te mei­nes Hei­mat­or­tes an einem Flip­per ste­hen. Kling­klang, lang ist es her, schei­nen die Glocken des Auto­ma­ten zu tönen. Nost­al­gie pur.

Der Schrift­stel­ler Andre­as Ber­nard, der an der staat­li­chen Leu­pha­na-Uni­ver­si­tät Lüne­burg Kul­tur­wis­sen­schaf­ten lehrt, hat mit sei­nem Büch­lein Der Trost der Flip­per mei­ne Erin­ne­run­gen geweckt. In sei­ner auto­bio­gra­fi­schen Erzäh­lung dreht sich alles um die fun­keln­den Auto­ma­ten und die Lust des Spielens.

Sol­che Flip­per stan­den zwi­schen 1960 und 1990 in der Bun­des­re­pu­blik in Gast­stät­ten und Eck­knei­pen, in Bars und Spiel­sa­lons, in Feri­en­hei­men und Jugend­zen­tren. Flip­per waren pure Unter­hal­tungs­ge­rä­te, deren Spiel­ergeb­nis in Form von Punk­ten und Frei­spie­len durch Übung und Geschick beein­flusst wer­den konn­te. Das unter­schied sie von den »ein­ar­mi­gen Ban­di­ten«, deren Name schon auf zwei­er­lei hin­deu­tet: dass sie zum Ingang­set­zen nach dem Geld­ein­wurf einen Hebel hat­ten, den besag­ten einen Arm, und dass sie als Glücks­spiel­ge­rä­te wie Ban­di­ten die Spie­ler aus­rau­ben konn­ten. Das Ergeb­nis die­ser Geld­spiel­ge­rä­te konn­te nicht beein­flusst wer­den, und die stän­di­ge Hoff­nung auf einen Gewinn ver­schlang so man­che Mark.

Viel­leicht fra­gen Sie sich, was ist über­haupt ein Flip­per? Viel­leicht haben Sie ja noch nie von solch einem Gerät gehört oder eines gese­hen, zum Bei­spiel, wenn Sie in der DDR auf­ge­wach­sen sind, wo die­se Auto­ma­ten ver­pönt waren? Daher jetzt kurz eine nüch­ter­ne Beschrei­bung: Bei allen Flip­pern wird nach einem Münz­ein­wurf eine Metall­ku­gel zunächst auf eine schräg­ste­hen­de Flä­che kata­pul­tiert, von der sie in Rich­tung des Spie­lers hin­ab­rollt. Je nach­dem, in wel­che Öff­nun­gen die Kugel dabei fällt bzw. wel­che Hin­der­nis­se sie dabei mit Kling­klang berührt, sam­melt der Spie­ler Punk­te. Mit den namens­ge­ben­den Flip­per­he­beln lässt sich die Kugel auf­fan­gen und auf die Spiel­flä­che zurück­sto­ßen, wodurch die Punk­te­zahl in die Höhe getrie­ben wer­den kann, bis zum Sieg in einem even­tu­el­len Wett­kampf, bis zu Frei­spie­len oder bis zum Abbruch, zum Bei­spiel durch »Tilt«. Ist das Spiel been­det, stel­len sich im auf­ra­gen­den Kopf­teil die Zah­len­lei­sten oder -räder rat­ternd auf null zurück.

Die DDR stand übri­gens mit ihrer Aver­si­on gegen Flip­per­au­to­ma­ten nicht allein. Die Gerä­te waren über meh­re­re Jahr­zehn­te hin­weg auch in eini­gen Bun­des­staa­ten in den USA ver­bo­ten, zum Bei­spiel von 1942 bis 1976 in New York, mit Begrün­dun­gen wie »Schul­kin­der wür­den um ihr Geld gebracht« oder »die Sitt­sam­keit der Jugend« wür­de gefährdet.

Von einer Gefähr­dung hat Ber­nard nichts bemerkt. Er hat sei­ne ersten Erfah­run­gen als Elf­jäh­ri­ger in einem Münch­ner Jugend­zen­trum gesam­melt, wo der Flip­per in einer Ecke des Bil­lard­raums stand. Flip­per waren anfangs mei­stens in Ecken von Loka­len oder in Durch­gän­gen, zum Bei­spiel auf dem Weg zu den Toi­let­ten, zu fin­den. Ber­nard been­de­te sein aller­er­stes Spiel, er weiß es noch heu­te, als letz­ter in einer Vie­rer-Grup­pe. Ein paar Tage danach aber, an einem Nach­mit­tag, als die Räu­me noch fast leer waren, zeig­te ihm ein erfah­re­ner Spie­ler die Tricks und Knif­fe, und so erhielt er sei­ne Grund­aus­bil­dung im Flip­pern. Es war der Beginn einer wun­der­ba­ren Freund­schaft zwi­schen Mensch und Maschine.

Sie mei­nen, solch eine Freund­schaft sei nicht mög­lich? 35 Jah­re nach sei­ner Initia­ti­on in die Flip­per-Welt ent­deck­te Ber­nard bei der Durch­rei­se »in einer schmuck­lo­sen Klein­stadt in Ost­west­fa­len« eine Men­schen­grup­pe vor einer Lager­hal­le. Hier fand an jenem Nach­mit­tag ein Flip­per-Tur­nier statt. Zu den Pro­fis, die dort auf­tra­ten, gehör­te, mit »ehr­fürch­ti­gen Blicken« begrüßt, »ein süd­län­disch aus­se­hen­der Spie­ler, auf­fal­lend hager, viel­leicht Anfang drei­ßig«. Und dann geschah »etwas Außergewöhnliches«:

»Ich hat­te vom ersten Moment an den Ein­druck, dass er auf dem Gerät nicht spiel­te, son­dern es hyp­no­ti­sier­te. Sei­ne Fin­ger­kup­pen waren nur sanft mit den Knöp­fen ver­bun­den. Er schien sie eher zu strei­cheln als zu drücken, und der Flip­per, des­sen wider­spen­sti­ge Schlag­tür­me und Ban­den den Geg­ner ein paar Sekun­den zuvor noch zur Rase­rei getrie­ben hat­ten, wur­de plötz­lich ganz ruhig, als wür­de er von einer myste­riö­sen Kraft besänf­tigt. (…) Unter sei­nen Hän­den – nein, durch sei­ne blo­ße Prä­senz (denn die Knöp­fe berühr­te er kaum, und gerüt­telt hät­te er das Gerät unter kei­nen Umstän­den) – wur­de der Maschi­ne Atem gleich­mä­ßi­ger, ihre ange­spann­ten Ner­ven gelö­ster. Und die Zuschau­er merk­ten, dass Mensch und Flip­per hier wirk­lich ver­schmol­zen, wobei die Bereit­schaft dazu eher von der Maschi­ne zu kom­men schien, die spür­te, dass sie jemand ver­stand, dass jemand gut zu ihr war.«

Und das alles geschah ohne KI oder die heu­te bei Gamern all­ge­gen­wär­ti­ge, an PC oder Kon­so­le anschließ­ba­re VR-Bril­le. In die­ser magi­schen Stun­de hät­ten »Robo­ter von elek­tri­schen Scha­fen träu­men« kön­nen (Phil­ip K. Dick). Als ich dies las, erin­ner­te ich mich plötz­lich an den von Peter Town­s­hend, dem Kopf der bri­ti­schen Rock­band The Who, geschrie­be­nen Song Pin­ball Wiz­zard aus dem Jahr 1969, der von einem tau­ben, stum­men und blin­den Kind erzählt, das in einer Ver­gnü­gungs­hal­le wie eine Sta­tue vor einem Flip­per steht, sicher nach purer Intui­ti­on spielt und für die Beob­ach­ter all­mäh­lich ein Teil der Maschi­ne zu wer­den scheint. Über die­sem Song liegt der glei­che Zau­ber, wie ihn Ber­nard 45 Jah­re spä­ter »in einer schmuck­lo­sen Klein­stadt in Ost­west­fa­len« emp­fun­den hat.

Andre­as Ber­nard hat die Kapi­tel sei­nes Buches strikt auf Flip­per-Gerä­te aus­ge­rich­tet, so wie sie nach und nach auf den Markt kamen, mit Namen wie Mona­co, Har­lem Glo­be­trot­ters, Pin­ball Champ ’82, Para­gon, Earthshaker, Taxi, Star Trek: The Next Gene­ra­ti­on. Aber er wäre kein Kul­tur­wis­sen­schaft­ler, wenn er nicht den Blick über den Gegen­stand sei­ner Beschrei­bung hin­aus wei­ten wür­de, zum Bei­spiel auf Bücher und Fil­me oder TV-Seri­en, in denen Flip­per eine Rol­le spielen.

Und noch etwas ist ihm auf­ge­fal­len: »Seit­dem die Flip­per ver­schwun­den sind, haben sich die Städ­te ver­wan­delt. Sie sind glä­ser­ner gewor­den, durch­sich­ti­ger. Im Zen­trum und an den Aus­fall­stra­ßen rei­hen sich Läden mit brei­ten Fen­ster­fron­ten anein­an­der, Döner­bu­den, Nagel­stu­di­os, Cof­fee­shops, Shi­sha-Bars, Asia-Bistros, Start-up-Büros – lau­ter Orte, die man zur Blü­te­zeit der Flip­per noch nicht kann­te.« Zu jener Zeit hat­ten Schän­ken, Kon­di­to­rei­en oder Gast­stät­ten Türen aus Holz und die Fen­ster waren von tabak­rauch­gelb­li­chen Gar­di­nen ver­hüllt, hin­ter denen kein Flip­per zu erken­nen war. »Höch­stens die Metz­ge­rei­en gewähr­ten vol­len Ein­blick ins Inne­re des Geschäfts.«

Wo kul­tu­rel­le Phä­no­me­ne wie das Flip­pern auf­tre­ten, sind Kul­tur­phi­lo­so­phen und Sozio­lo­gen mit ihren Deu­tun­gen und sozi­al­kri­ti­schen Ana­ly­sen nicht weit. Schon Ador­no hat­te ver­kün­det, dass »Frei­zeit an ihren Gegen­satz geket­tet« sei. Im vor­letz­ten Kapi­tel weicht Ber­nard vom locke­ren Erzähl­ton ab ins Sach­buch­mä­ßi­ge, wenn er schreibt: «In den Ver­gnü­gungs­for­men kapi­ta­li­sti­scher Gesell­schaf­ten, so die Grund­an­nah­me, spie­geln sich die Herr­schafts­ver­hält­nis­se indu­stri­el­ler Arbeit. Schnell wur­de ermit­telt, dass ›Lohn­ab­hän­gi­ge sowie – in gewis­sem Abstand – Schü­ler und Stu­den­ten mit noch unge­klär­tem Sozi­al­sta­tus die weit­aus mei­sten Spie­ler‹ stel­len. Zur Blü­te­zeit der Maschi­nen reich­te das Spek­trum poli­ti­scher Flip­per­theo­rien weit: von ihrer Dämo­ni­sie­rung als Ver­stär­ker der Ent­frem­dung bis zu ihrer Fei­er als Maschi­nen des Widerstands.«

In den 1990er Jah­ren dann der Schwa­nen­ge­sang. Es begann die Ära der Arca­de-Auto­ma­ten. Mit ihren Video­spie­len und Bild­schir­men und ihrer Film-Ästhe­tik über­trumpf­ten sie die ana­chro­ni­stisch gewor­de­nen, bild­schirm­lo­sen Kästen aus Stahl und Glas. Selbst die DDR öff­ne­te sich für sol­che Auto­ma­ten. »Poly-Play« hieß der Star. Von 1986 bis 1989 wur­den vor allem in Feri­en­hei­men und öffent­li­chen Ein­rich­tun­gen ins­ge­samt 2000 sol­cher Gerä­te auf­ge­stellt, für 22 000 Mark das Stück, pro­du­ziert im VEB Poly­tech­nik Karl-Marx-Stadt.

Aber auch die Video-Auto­ma­ten hiel­ten sich nicht lan­ge. Flip­per und Arca­des fie­len »im aus­ge­hen­den 20. Jahr­hun­dert aus einer Welt, deren Erneue­rung vor allem zwei Berei­che betrifft: die Umfor­mung des öffent­li­chen Rau­mes und die Umfor­mung der Arbeits­welt«. Video­spie­le auf Heim­kon­so­len, Smart­phones und Tablets tra­ten ihren bis heu­te anhal­ten­den Sie­ges­zug an. Für Flip­per und Video­au­to­ma­ten aber hieß es: Game Over. Oder, um es mit Jean-Paul Sart­re auf Fran­zö­sisch zu sagen: Les Jeux sont faits.

Nach­be­mer­kung: Auch in der DDR gab es »ein­ar­mi­ge Ban­di­ten«, einen zumin­dest. Die­ser Münz­au­to­mat, ein West-Import, stand im Erho­lungs­heim des Zen­tral­ko­mi­tees der SED in Baa­be auf Rügen, das am 2. Janu­ar 1990 als Cliff-Hotel zu neu­em Leben erwach­te und heu­te als First Class Her­ber­ge fir­miert. Aller­dings konn­te der »Ban­dit« nur mit Spiel­geld gefüt­tert wer­den, viel­leicht, um die Genos­sin­nen und Genos­sen nicht in Ver­su­chung zu füh­ren, viel­leicht aber auch, weil nicht genug West-Mün­zen zur Ver­fü­gung standen.

 Andre­as Ber­nard: Der Trost der Flip­per, Klett-Cot­ta, Stutt­gart 2024, 121 S., 20 €. – Bei eini­gen Anga­ben zur Flip­per-Histo­rie habe ich mir von Wiki­pe­dia hel­fen lassen.