Skip to content

Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

Menu
Menu

Keine Stunde Null

Es gehört zu den pro­fes­sio­nel­len Gepflo­gen­hei­ten der Ver­lags­bran­che, dass neue Bücher beim Erschei­nen mit Rekla­me rech­nen dür­fen, also mit Anzei­gen, Buch­han­dels-Aktio­nen oder einem Auf­tritt bei Lanz. Es sind nicht immer die wich­tig­sten Bücher, die hier bewor­ben wer­den. Vor allem öffent­li­che, ver­kaufs­ver­spre­chen­de Titel, samt pro­mi­nen­ter Autoren­schaft, wer­den mit Wucht und Elan »gepusht«. Ver­lags­pro­fis nen­nen so etwas »Book-Mar­ke­ting«. Und dann gibt es Bücher – es sind nur weni­ge, aus­ge­such­te – die in den soge­nann­ten »Leit­me­di­en«, also in der FAZ, der NZZ, der Süd­deut­schen, im Spie­gel oder der ZEIT vor­ge­stellt und bespro­chen wer­den. Kurz­um: Vie­len – den mei­sten Neu­erschei­nun­gen – ist das Schick­sal beschie­den, kon­se­quent über­se­hen und igno­riert zu wer­den. Sach­bü­cher haben es beson­ders schwer. Trotz erhel­len­der Welt- und Wirk­lich­keits­er­klä­rung gel­ten sie beim Lese-Publi­kum aus drö­ge, lang­at­mig und mit­un­ter schwer ver­ständ­lich. Ein Vor­ur­teil, dass sich hart­näckig hält, seit es Bücher gibt. Grund genug also, für span­nen­de, kennt­nis- und erkennt­nis­rei­che, gut und ver­ständ­lich geschrie­be­ne Bücher »Rekla­me« zu machen.

Von einem beson­ders auf­klä­ren­den und klu­gen Buch soll hier die Rede sein. Es ist bereits vor zwei Jah­ren erschie­nen, seit­her viel­fach und ein­hel­lig lobend rezen­siert. Titel: Der Dienst­be­trieb ist nicht gestört. Der Rechts­hi­sto­ri­ker Ben­ja­min Lahusen hat es geschrie­ben, ein intel­lek­tu­el­ler Frei­geist, der als Pro­fes­sor Bür­ger­li­ches Recht und Neue­re Rechts­ge­schich­te an der Via­dri­na in Frankfurt/​Oder lehrt. Es geht dar­in um die gera­de­zu unheim­li­chen Kon­ti­nui­tä­ten der deut­schen Justiz zwi­schen 1943 und 1948, als das »Tau­send­jäh­ri­ge Reich« in Schutt und Asche ver­sank und Par­tei, Staat und Volks­ge­mein­schaft den­noch alles taten, im gro­ßen Nie­der­gang auf dem klei­nen »Nor­ma­len« zu behar­ren. Und so lie­fen – kaum beirrt von Bom­ben­krieg, Kapi­tu­la­ti­on und alli­ier­ter Besat­zung – Gerichts­ver­fah­ren vor und nach 1945 ein­fach wei­ter, mit den­sel­ben Akteu­ren, nach den glei­chen Regeln. Ob Nach­bar­schafts­streits um die Kehr­wo­che, klei­ner Dieb­stahl oder uner­laub­ter Her­ren­be­such – der juri­sti­sche All­tags-Dienst­be­trieb muss­te auf­recht­erhal­ten, ein Still­stand der Rechts­pfle­ge unter allen Umstän­den ver­mie­den wer­den. Es galt, ein Justi­ti­um, so der Fach­be­griff für den erzwun­ge­nen »Still­stand der Rechts­pfle­ge«, unbe­dingt zu ver­mei­den. Und so ver­rich­te­ten die NS-Juri­sten ihre Arbeit im Schat­ten der Gewalt, als wäre nichts pas­siert. Bei­spiels­wei­se in Stutt­gart, im Sep­tem­ber 1944: Das Justiz­ge­bäu­de wird dort durch neun Spreng­bom­ben und zahl­rei­che Brand­bom­ben weit­ge­hend zer­stört, doch stolz mel­det der Gene­ral­staats­an­walt, dass bereits am näch­sten Mor­gen »noch in den Rauch­schwa­den (…) eine Rei­he von Straf­ver­hand­lun­gen durch­ge­führt« wur­den. Auch andern­orts wird der Dienst­be­trieb in teils noch bren­nen­den Gebäu­den auf­recht­erhal­ten, selbst unter Artil­le­rie­be­schuss. Gesetz ist Gesetz. Befehl ist Befehl.

Ben­ja­min Lahusen hat sich die Akten zahl­rei­cher Gerich­te aus den Jah­ren vor und nach 1945 ange­se­hen und beschreibt col­la­ge­ar­tig, wie weder »End­kampf« noch staat­li­cher Zusam­men­bruch den juri­sti­schen Dienst­be­trieb unter­bre­chen konn­ten. Trotz »tota­lem Krieg« blieb im Grun­de alles beim Alten. Auf das juri­sti­sche Per­so­nal war wei­ter­hin Ver­lass: Pflicht­er­fül­lung, Gehor­sam und vol­le Ein­satz­be­reit­schaft garan­tier­ten einen oft impro­vi­sier­ten, den­noch halb­wegs geord­ne­ten Dienst­be­trieb. Bis zum düste­ren Ende.

Mai 1945: Schuld, Schutt und Scham. Wer war Täter, wer nur Mit­läu­fer? Ein Volk, das sich als Ver­lie­rer fühl­te, aber nicht unbe­dingt als schul­dig. Auch die Juri­sten woll­ten die gro­ße Selbst-Rei­ni­gung, die »Ent-Nazi­fi­zie­rung«, am lieb­sten in Eigen­re­gie. Gab es nicht »anstän­di­ge« und »unan­stän­di­ge« Nazi-Juri­sten? Lahus­ens Buch zeigt klar, dass von einem Justi­ti­um oder einer »Stun­de Null« in Bezug auf die deut­sche Justiz nicht die Rede sein kann. In der Justiz­ge­schich­te wird das Sche­ma des Vor­her-Nach­her all­zu gern bemüht. Auf der einen Sei­te die Aus­wüch­se der NS-Justiz – Volks­ge­richts­hof, Son­der­ge­rich­te, Mili­tär­ge­rich­te, Stand­ge­rich­te – auf der ande­ren Sei­te die auf­rech­ten, unbe­la­ste­ten Juri­sten, die nun in der deut­schen Rui­nen­land­schaft für den Auf­bau einer rechts­staat­li­chen Justiz sor­gen soll­ten. Es ist eine der Legen­den der Nach­kriegs­zeit, eine Lebens­lü­ge, die noch heu­te kon­ser­viert wird.

Rich­ter und Staats­an­wäl­te, die bis 1945 im Justiz­dienst gestan­den hat­ten, kehr­ten in die Justiz zurück. Man stör­te sich offen­bar nicht dar­an, dass selbst schwer­be­la­ste­te ehe­ma­li­ge Volks­ge­richts­hof­rich­ter jetzt wie­der Recht spra­chen, häu­fig in her­aus­ra­gen­den Posi­tio­nen: Bei­spiels­wei­se Dr. Paul Rei­mers, Rich­ter am Volks­ge­richts­hof, Mit­wir­kung an 124 Todes­ur­tei­len, und Otto Rah­mey­er, Anklä­ger am Volks­ge­richts­hof, Mit­wir­kung an min­de­stens 78 Todes­ur­tei­len. Die bei­den Hin­rich­ter brach­ten es bis zum Land­ge­richts­rat in Ravens­burg, wo sie sich bis 1963 erneut für die Rechts­kul­tur ver­dient machen durften.

Nach 1945 muss­ten die NS-Todes­rich­ter nichts befürch­ten. Im Gegen­teil: Bei­na­he in allen Ver­fah­ren gegen die Nazi-Justiz durf­ten die Ange­klag­ten mit beson­de­rem Fein­ge­fühl und Ver­ständ­nis ihrer Zunft­kol­le­gen rech­nen. Kaum ein Urteil war der Nach­kriegs­ju­stiz ober­fläch­lich und bar­ba­risch genug, als das es nicht doch Grün­de dafür gab, dass »damals anzu­wen­den­de Recht« zu legi­ti­mie­ren. Die ver­hin­der­ten Ermitt­lun­gen, das groß­zü­gi­ge Ver­ständ­nis, die laxen Urtei­le, die zahl­lo­sen Frei­sprü­che – das alles war cha­rak­te­ri­stisch für die Nach­kriegs­ju­stiz, wenn es um die Tätig­keit der NS-Juri­sten ging. Die For­mel des »man­geln­den Unrechts­be­wusst­seins« wur­de für die ehe­ma­li­gen natio­nal­so­zia­li­sti­schen »Rechts­wah­rer« zum Blan­ko­schein. Auf die Soli­da­ri­tät ihrer Rich­ter­kol­le­gen konn­ten sie ohne­hin zäh­len, ein aus­ge­präg­ter Korps­geist garan­tier­te dafür. Und deren Fried­fer­tig­keit fand durch­aus die Zustim­mung der mei­sten Deut­schen. Die Justiz gab sich inso­fern durch­aus volks­nah. Das Aus­blei­ben der straf­recht­li­chen Süh­ne für rich­ter­li­che Ver­bre­chen war nur Teil des gro­ßen kol­lek­ti­ven Ver­drän­gungs­vor­gangs. Die Zeit der Inte­gra­ti­on der Justiz-Täter.

Lahusen doku­men­tiert in sei­nem Buch einen exem­pla­ri­schen, ganz »nor­ma­len« Kar­rie­re-Weg eines NS-Rich­ters. Hans Keut­gen (1912 – 1999), der gegen Kriegs­en­de als letz­ter Rich­ter des Son­der­ge­richts Aachen amtier­te – und nun naht­los sei­ne Kar­rie­re fort­setz­te. Wie vie­le ande­re bela­ste­te Juri­sten wur­de er schon kurz nach dem Kriegs­en­de reak­ti­viert. Obwohl nach­weis­lich an Todes­ur­tei­len betei­ligt, ließ die bri­ti­sche Mili­tär­re­gie­rung ihn bereits im August 1945 erneut als Rich­ter zu. Eine 1965 erho­be­ne Straf­an­zei­ge eines NS-Ver­folg­ten wur­de vom Ober­lan­des­ge­richt Köln ohne wei­te­re Ermitt­lun­gen ein­ge­stellt. Und als ob dies nicht schon genug gewe­sen wäre, erhielt der frü­he­re NS-Rich­ter kurz nach Kriegs­en­de für eine zeit­wei­li­ge Ver­set­zung nach Baut­zen und Umge­bung eine »Tren­nungs­ent­schä­di­gung« von knapp 1.000 Reichs­mark aus­ge­zahlt. In den 1970er Jah­ren folg­te dann eine ent­spre­chend ange­pass­te Pen­si­on – die auch der Mehr­zahl aller ehe­ma­li­gen NS-Rich­tern aus­ge­zahlt wur­de. Keut­gen war kein Ein­zel­fall. Er war die Regel. Die »Stun­de Null« – auch das beschreibt und belegt Lahusen umfas­send – jeden­falls eine Legen­de. Ganz nach dem Recht­fer­ti­gungs-Mot­to von Hans Fil­bin­ger, »Was damals Recht wahr, kann heu­te nicht Unrecht sein«, ein Mann, der als Mili­tär­rich­ter in den letz­ten Kriegs­ta­gen an Todes­ur­tei­len betei­ligt war und es den­noch als spä­te­rer CDU-Poli­ti­ker zum Mini­ster­prä­si­den­ten eines Bun­des­lan­des brin­gen konnte.

Am Ende sei­nes Buches bilan­ziert Lahusen nüch­tern: »Die Bana­li­tät des juri­sti­schen Dienst­be­triebs voll­zog sich inmit­ten der deut­schen Kol­lek­tiv­ra­se­rei, neben Kon­zen­tra­ti­ons­la­gern, Todes­mär­schen, auch neben Bom­ben­krieg, Volks­turm, Besat­zung, Flucht.« Und er fragt: »Ist das nun der Gip­fel der Zivi­li­sa­ti­on oder ihre letz­te Per­ver­si­on?« Nach der Lek­tü­re ist man geneigt zu ant­wor­ten: Bei­des! Zu wün­schen bleibt in jedem Fall, dass Lahus­ens ein­dring­li­ches, erhel­len­des und span­nend geschrie­be­nes Buch eine erwei­ter­te Leser­schaft fin­det. Ein gün­sti­ge Taschen­buch­aus­ga­be ist überfällig.

 Ben­ja­min Lahusen: Der Dienst­be­trieb ist nicht gestört. Die Deut­schen und ihre Justiz 1943-1948, C.H. Beck 2022, 380 S., 34 €.