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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Kafkas Familienalbum

Die Gestalt und das Werk Franz Kaf­kas sind seit sei­ner »Wie­der­ent­deckung« in den sech­zi­ger Jah­ren auf eine Wei­se her­auf- und her­un­ter­in­ter­pre­tiert, erklärt und hin- und her­ge­wen­det wor­den, dass es eigent­lich unmög­lich scheint, all dem noch etwas Neu­es hin­zu­zu­fü­gen. Aber sie­he, dem Lite­ra­tur­wis­sen­schaft­ler Hans-Gerd Koch, seit vie­len Jah­ren für die kri­ti­sche Kaf­ka-Gesamt­aus­ga­be des S. Fischer-Ver­la­ges ver­ant­wort­lich, gelingt ein eben­so bewe­gen­der wie tat­säch­lich neu­er Blick auf den Jahr­hun­dert-Autor, indem er uns sein Fami­li­en­al­bum öffnet.

Zu den »kaf­ka­es­ken« Anti­no­mien im Leben Kaf­kas gehör­te, dass er, der lebens­lang und gera­de­zu ver­zwei­felt mit Ehe und fami­liä­rer Bin­dung hader­te, dies mit­ten in einer viel­ver­zweig­ten Groß­fa­mi­lie tat: Neben drei Schwe­stern und Schwa­gern ent­stamm­ten ihr zehn Onkel und Tan­ten väter- und müt­ter­li­cher­seits sowie dut­zen­de Cou­sins, Cou­si­nen, Nef­fen, Groß­nef­fen, mit einer heu­te kaum über­schau­ba­ren Zahl von Enkeln und Uren­keln. Und »Onkel Franz« nahm – ent­ge­gen dem Kli­schee vom men­schen­scheu­en, ein­sa­men Lite­ra­tur-Ere­mi­ten, und sogar ent­ge­gen sei­nen in Brie­fen und Tage­bü­chern über­lie­fer­ten Anti­pa­thien und Fru­stra­tio­nen – durch­aus Anteil an die­sem Fami­li­en­le­ben. Er lieb­te die Kin­der sei­ner Schwe­stern, er war freund­li­cher Fami­li­en-Rat­ge­ber und Hel­fer in der Not, und die regen Besu­che der weit­läu­fi­gen Ver­wandt­schaft in Prag hin­ter­lie­ßen (selbst­ver­ständ­lich auf ver­schlüs­sel­te Wei­se) eben­so Spu­ren im lite­ra­ri­schen Werk wie die Gegen­be­su­che bei Onkeln und Schwa­gern auf dem Land. Die Ehe und der gesell­schaft­li­che Auf­stieg der Eltern aus den Fami­li­en Löwy und Kaf­ka spie­geln para­dig­ma­tisch die schein­bar unum­kehr­bar gelun­ge­ne Assi­mi­la­ti­on des »West­ju­den­tums« in Euro­pa: Mit­ten im Her­zen Prags, am Alt­städ­ter Ring flo­rier­te bis zum Ersten Welt­krieg das Putz­ma­cher­ge­schäft des Her­mann Kaf­ka, kul­mi­nier­ten gut­bür­ger­li­che Repu­ta­ti­on und Gedie­gen­heit, wuch­sen Franz und sei­ne Schwe­stern Elli, Val­li und Ott­la umsorgt von Dienst­mäd­chen, Haus­mam­sell und Köchin auf. Spür­bar wird in den Bil­dern auch die Trans­for­ma­ti­on der Gesell­schaft durch den Ersten Welt­krieg: Auto­ri­tä­re und patri­ar­cha­le Struk­tu­ren begin­nen sich auf­zu­lö­sen, beson­ders die Klei­dung der Frau­en wird radi­kal moder­ner, befreit sich von all den pit­to­res­ken Rüschen, Kor­sa­gen und bom­ba­sti­schen Kostü­mie­run­gen der ver­gan­ge­nen Epo­che. Hans-Gerd Koch ist es gelun­gen, Ori­gi­nal­fo­to­gra­fien zu ver­sam­meln, die so noch nie mit­ein­an­der zu sehen waren; sei­en es die frü­hen stei­fen Stu­dio­auf­nah­men der stolz her­aus­ge­putz­ten Kin­der, sei­en es die durch erste Hand­ka­me­ras mög­lich gemach­ten »Schnapp­schüs­se« von Rei­se- oder Kur­ge­sell­schaf­ten der Ver­wand­ten oder die (weni­gen) iko­ni­schen Kaf­ka-Por­träts. Letz­te­re, eini­ge davon bei­na­he unbe­kannt, ande­re oft gese­hen und publi­ziert, ent­fal­ten im Kon­text der Aus­stel­lung noch ein­mal eine beson­de­re Aura: Wie über­haupt ein eigen­tüm­lich melan­cho­li­scher Zau­ber von all die­sen win­zi­gen, in Sil­ber­ge­la­ti­ne gebann­ten Phy­sio­gno­mien aus­geht. Kaf­ka selbst moch­te es übri­gens gar nicht, foto­gra­fiert zu wer­den, und man sucht und fin­det in sei­nem Blick etwas von all der Ambi­va­lenz, lei­sen Iro­nie und Beklem­mung, die sein Leben bestimm­te. Die Fami­lie para­diert und posiert hin­ge­gen, fein gemacht, lächelnd und sonn­täg­lich geputzt vor der pro­fes­sio­nel­len Foto­gra­fen­lin­se. Aber es fin­den sich auch zuneh­mend mit Ama­teur­ka­me­ras auf­ge­nom­me­ne spon­ta­ne Sze­nen aus den zwan­zi­ger und drei­ßi­ger Jahren.

Nie­mand kann in die­se Aus­stel­lung gehen, ohne auch den dop­pel­ten dunk­len Schlei­er zu emp­fin­den, der unsicht­bar über allem liegt: Zum einen die­ses all zu früh und in gro­ßer Qual enden­de Schrift­stel­ler­le­ben, zum ande­ren der Zugriff ras­si­sti­scher Ver­nich­tungs­ge­walt nach dem Ein­marsch Hit­ler­deutsch­lands in die Tschechoslowakei.

Das letz­te Por­trät des tod­kran­ken Kaf­ka aus einem Ber­li­ner Foto­au­to­ma­ten in all sei­ner erschüt­tern­den Authen­ti­zi­tät ist nur weni­ge hun­dert Meter vom Aus­stel­lungs­ort gemacht wor­den; und die Rei­he der Bil­der sei­ner drei Geschwi­ster und eini­ger ande­rer Ver­wand­ter endet unwi­der­ruf­lich mit ihrer Depor­ta­ti­on und Vernichtung.

Ott­las Toch­ter Věra Saud­ko­vá über­leb­te und stell­te an ihrem 90. Geburts­tag fest: »Adolf Hit­ler woll­te auch die Fami­lie Kaf­ka aus­lö­schen, heu­te sind wir mehr als je zuvor.«

Das Foto­al­bum der Fami­lie Kaf­ka, Staats­bi­blio­thek zu Ber­lin, Unter den Lin­den 8, 10117 Berlin.

Frei­tag, 1. März bis Sonn­tag, 2. Juni 2024; Di-So 10-18 Uhr, Do 10-20 Uhr außer an Fei­er­ta­gen, Ein­tritt frei

Das Buch zur Aus­stel­lung: »Kaf­kas Fami­lie – Ein Foto­al­bum«. Zusam­men­ge­stellt und mit einer Ein­lei­tung von Hans-Gerd Koch, Ver­lag Klaus Wagen­bach, Ber­lin 2024, 208 S., 38€.