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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Europawahl 2024 – zwei Studien

Die Euro­pa­wahl im Juni hat wie erwar­tet einen Durch­marsch der Rech­ten gebracht; aber auch vie­le Lin­ke fra­gen sich: Ist die EU in ihrer bis­he­ri­gen Form über­haupt noch zu ret­ten? Dazu gibt es jetzt zwei Stu­di­en, eine deut­sche und eine fran­zö­si­sche. Dani­el Keil hat im Schmet­ter­ling-Ver­lag eine »Mate­ria­li­sti­sche Euro­pa­kri­tik« vor­ge­legt, die einen Über­blick über die Geschich­te der EU gibt. Er betont mehr­fach, »mate­ria­li­stisch« bedeu­te gera­de nicht, dass die EU aus­schließ­lich von wirt­schaft­li­chen Inter­es­sen bestimmt sei; poli­ti­sche und ideo­lo­gi­sche Ele­men­te wür­den einen Eigen­wert behaupten.

Der Autor schreibt, dass die EU von Anfang an ein Feld von Inter­es­sens­kon­flik­ten und Kri­sen war, die zwi­schen poli­ti­schen und wirt­schaft­li­chen Eli­ten der betei­lig­ten Staa­ten, aber auch im Rah­men des All­tags der betei­lig­ten Län­der aus­ge­tra­gen wur­den. Keil unter­schei­det fünf Pha­sen der Geschich­te der EU, die letz­te ist für ihn die Pha­se der »multiple(n) Des­in­te­gra­ti­ons­kri­sen«. The­men der Kon­flik­te waren, neben den Kämp­fen der ver­schie­de­nen Kapi­tal­an­le­ger unter­ein­an­der, u. a. der nicht auf­ge­ar­bei­te­te Kolo­nia­lis­mus; die man­geln­de demo­kra­ti­sche Legi­ti­mie­rung der EU; Migra­ti­on und Abschot­tung; der Brexit; Auf­bau der EWG im Ant­ago­nis­mus gegen den Ost­block, was nach 1989 in Abhän­gig­keit von den USA wie­der­be­lebt wur­de; gegen­sätz­li­che Inter­es­sen zu den USA; die bis­he­ri­ge Unfä­hig­keit, eine eige­ne Armee auf­zu­bau­en, was aus pazi­fi­sti­scher Sicht natür­lich begrüßt wird; die Finanz­kri­se von 2008 und in der Fol­ge die Nie­der­la­ge der Syri­za-Regie­rung im gede­mü­tig­ten Griechenland.

Die mul­ti­plen Kri­sen könn­ten zu einer Auf­lö­sung des Staa­ten­bun­des füh­ren, aber die Aus­sich­ten sind selbst für Geg­ner der EU wenig erfreu­lich: Sowohl im Rah­men der EU wie in den Mit­glieds­staa­ten läuft die Poli­tik in Rich­tung auto­ri­tä­rer Bear­bei­tung der Pro­ble­me. Die Ultra­rech­ten schließ­lich, von der AfD und ihren »Geschwi­stern« in den ande­ren Län­dern, haben nicht nur kei­ne wider­spruchs­freie Theo­rie anzu­bie­ten, nein, die­se Wider­sprü­che sei­en ihr Wesens­kern, argu­men­tiert Keil. Was sie wol­len, ist im Grun­de nichts wei­ter als ein gewalt­sa­mes Drein­schla­gen (wohl in der illu­sio­nä­ren Hoff­nung, wenn alles kaputt sei, kön­ne doch wie Phö­nix aus der Asche etwas Neu­es ent­ste­hen). Ver­steht man aber nach der Lek­tü­re wirk­lich die Ursa­chen für das Drif­ten der Bevöl­ke­rung nach rechts?

So mate­ri­al­reich und instruk­tiv die Stu­die von Dani­el Keil ist, so feh­len doch gele­gent­lich wich­ti­ge Argu­men­te. Bei­spiels­wei­se wirft er Sahra Wagen­knecht vor, sie über­neh­me in der Migra­ti­ons­fra­ge Posi­tio­nen der Rech­ten. In ihrem Buch »Die Selbst­ge­rech­ten« hat aber Wagen­knecht genau dif­fe­ren­ziert: Sie schreibt, es sei­en gera­de die Arbeit­ge­ber, die Migra­ti­on för­der­ten, um in Deutsch­land die Löh­ne nied­rig zu hal­ten, und das sei zu unter­bin­den (S. 159 ff.). Sie meint also, Men­schen aus fer­nen Län­dern soll­ten nicht mit dem Ver­spre­chen auf Arbeit her­ge­lockt wer­den, denn sie wür­den auf die­se Wei­se für Zwecke miss­braucht, die ihnen ganz fern lie­gen. Bei Men­schen, die aus Not hier­her geflo­hen sind, ist Wagen­knechts Posi­ti­on dage­gen völ­lig ein­deu­tig: Sie sei­en bedin­gungs­los auf­zu­neh­men (S. 149). Eine Fra­ge ist auch, ob Keil der Pro­ble­ma­tik der Iden­ti­tät gerecht wird. Wir sehen das ja gera­de bei »sub­al­ter­nen Grup­pen« (wie sie Keil nennt), bei­spiels­wei­se bei Migran­ten aus der Tür­kei, die ihre Iden­ti­tät im Islam suchen, weil die Mehr­heits­ge­sell­schaft ihnen kei­ne wirk­li­che Per­spek­ti­ve bietet.

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Front Popu­lai­re (Volks­front) nennt sich eine euro­pa­kri­ti­sche Grup­pe um den Phi­lo­so­phen Michel Onfray. Gera­de ist die Num­mer 16 ihrer gleich­na­mi­gen Zeit­schrift erschie­nen, unter dem Titel »L’Europe démy­sti­fi­ée. Vie et mort d‘un empire« (Das ent­my­sti­fi­zier­te Euro­pa. Leben und Tod eines Rei­ches). Auf dem Titel­blatt ein lang­na­si­ger Pinoc­chio-Kopf mit Euro­pa­müt­ze. Haupt­kri­tik an Euro­pa ist: 1. die EU ist nicht demo­kra­tisch. 2. Die EU unter­gräbt die Sou­ve­rä­ni­tät der demo­kra­tisch gewähl­ten Regie­run­gen der Mit­glieds­län­der. 3. Der Euro­päi­sche Gerichts­hof maßt sich Rech­te an, die ihm nicht ein­mal durch die Ver­trä­ge von Maas­tricht über­tra­gen wor­den sind. 4. Die Euro­päi­sche Zen­tral­bank ord­net wie die deut­sche alles dem Dik­tat der Geld­sta­bi­li­tät unter und beför­dert damit die Verarmung.

Dass die EU ein neo­li­be­ra­les Wirt­schafts­pro­jekt ist, ist unbe­strit­ten. Ziel war von Anfang an der freie Fluss von Kapi­tal, Gütern und Men­schen. Gene­ral De Gaul­le wei­ger­te sich aber, die fran­zö­si­sche Sou­ve­rä­ni­tät aus der Hand zu geben, und das rech­nen ihm Onfrays Mit­ar­bei­ter (unter 22 Män­nern nur eine Frau) hoch an. Die Autoren wer­fen der Regie­rung Mit­te­rand vor, die Sou­ve­rä­ni­tät Frank­reichs auf­ge­ge­ben zu haben. Sou­ve­rä­ni­tät wird seit Jean Bodin (1529-1596) defi­niert als die Fähig­keit eines Staa­tes, eige­nes Geld in Umlauf zu brin­gen, die eige­nen Gren­zen zu kon­trol­lie­ren und eine höch­ste Gerichts­bar­keit zu haben. All die­ses sei inzwi­schen ange­kratzt, die Kom­mis­si­on gebe den Regie­run­gen der Ein­zel­staa­ten Regeln vor, sei aber im Gegen­satz zu die­sen nicht demo­kra­tisch legi­ti­miert. Dazu sei­en die ver­spro­che­nen Erwar­tun­gen in kei­ner Wei­se erfüllt wor­den: Die Lage der Men­schen und auch der hei­mi­schen Indus-trie habe sich nicht ver­bes­sert, im Gegen­teil. Die EU habe viel­mehr dazu geführt, dass Euro­pa zum Spiel­ball des inter­na­tio­na­len, meist US-Kapi­tals gewor­den sei. Das spie­ge­le sich auch in der Sicher­heits­po­li­tik, bei der man sich in die völ­li­ge Abhän­gig­keit vom Gro­ßen Bru­der jen­seits des Atlan­tiks bege­ben habe. Auch Deutsch­land kriegt sein Fett ab, aber mit Grund: Wie­der­holt hat ja die deut­sche Regie­rung Frank­reich brüs­kiert. Die deut­sche Austeri­täts­po­li­tik mit Hartz4 geht zu Lasten der übri­gen Län­der der EU.

Die Grup­pe plä­diert also für einen Aus­tritt Frank­reichs aus der EU, im Grun­de damit für deren Auf­lö­sung. Lei­der fehlt bei dem The­ma Ener­gie­po­li­tik eine Kri­tik an der in Frank­reich domi­nie­ren­den Atom­kraft. Über deren Rol­le für die fran­zö­si­sche Sou­ve­rä­ni­tät ist viel die Rede, aber nicht über ihre Gefah­ren. Das The­ma Gren­zen spielt in der Argu­men­ta­ti­on m. E. eine über­trie­be­ne Rol­le. Die unge­re­gel­te Migra­ti­on, die wir im Augen­blick erle­ben, lässt sich auch von Natio­nal­staa­ten nicht ein­däm­men oder nur unter fort­wäh­ren­der Ver­let­zung der ele­men­tar­sten Men­schen­rech­te; die­se Ein­sicht fehlt in den Bei­trä­gen. Und dass einem Mann wie Alain de Benoist Raum gege­ben wird, sei­ne kru­den The­sen über euro­päi­sche Geschich­te und Iden­ti­tät aus­zu­brei­ten, nährt den Ver­dacht, die Grup­pe wol­le auf dem Feld der Ideo­lo­gie die Ultra­rech­ten noch rechts überholen.

Dani­el Keil argu­men­tiert in sei­nem letz­ten Kapi­tel, die Arbei­ter­schaft sei über­na­tio­nal, schon des­halb wer­de sich die Lage durch Rück­griff auf die Natio­nal­staa­ten nicht ver­bes­sern. Er sieht die gegen­wär­ti­ge Struk­tur der EU als einen Aus­druck gesell­schaft­li­cher Kräf­te­ver­hält­nis­se; man kön­ne also nicht ein­fach die über­na­tio­na­le Ebe­ne strei­chen und glau­ben, das sei eine bes­se­re Aus­gangs­ba­sis. »Lin­ke Bewe­gun­gen wur­den dann stark, als sie kon­kre­te Ver­hält­nis­se des Kapi­tals bear­bei­te­ten und bei­spiels­wei­se Zwangs­räu­mun­gen ver­hin­der­ten, sich in Stadt­tei­len zusam­men­schlos­sen und Selbst­hil­fe­netz­wer­ke auf­bau­ten (wie auto­no­me Kran­ken­häu­ser usw.). Eine links­po­pu­li­sti­sche Ana­ly­se, die von die­sen kon­kre­ten Kämp­fen absieht und sie in ein ›Wir-das-Volk-gegen-die-da-oben‹ presst, wird not­wen­di­ger­wei­se schei­tern und letzt­end­lich in natio­na­li­sti­schen Phra­sen ver­sin­ken« (S. 189).

 Dani­el Keil: Mate­ria­li­sti­sche Euro­pa­kri­tik. Ele­men­te kri­ti­scher Euro­pa­for­schung. Black Books, Schmet­ter­ling Ver­lag, Stutt­gart 2024, 222 S., 16,80 €.Front Popu­lai­re. La Revue de Michel Onfray, Nr. 16, Mai 2024, 159 S.