Laut Sonntagsumfrage der Forschungsgruppe Wahlen vom 15. September 2023 wäre die AfD die zweitstärkte Partei im Deutschen Bundestag. Sie käme hinter der CDU/CSU mit 26 Prozent auf 21 Prozent, vor der SPD mit 17 Prozent, den Grünen mit 16 und der FDP mit 6 Prozent. Die übrigen Parteien würden in Summe auf 9 Prozent kommen. Die LINKE wäre im Bundestag nicht mehr vertreten. Alle etablierten Parteien sind über diesen Befund entsetzt und lamentieren mit gegenseitigen Schuldzuweisungen vor sich hin. Dabei ist die Ursache eindeutig. Diese wird aber verschwiegen, allenfalls wegdiskutiert. Wie will man sich auch eingestehen, dass man selbst die Ursache für das Übel ist? So aber kommt es zu einem systemimmanenten Staats- bzw. Politikversagen.
Dies war schon immer das große Problem in indirekten parlamentarischen Demokratien. Die Schweiz, als einziges Land auf der Erde mit einer direkten Demokratie, hat diese politischen Ursachen für eine Demokratiegefährdung nicht. »In Deutschland«, schreibt die ehemalige Bundesverfassungsrichterin Gertrude Lübbe-Wolff, »gibt es direktdemokratische Entscheidungsmöglichkeiten in den Ländern und Kommunen. Auf Bundesebene dagegen, dort also, wo die meisten und die wichtigsten Gesetze gemacht werden, haben wir eine fast rein repräsentativdemokratische Verfassung. Die Bürger sind, was politisches Entscheiden angeht, weitestgehend auf Wahlen beschränkt.« So lebt denn das Volk in indirekten Demokratien lediglich in einer Zuschauerdemokratie. »Die Volksvertreter können, sind sie einmal im Amt, so handeln, wie es ihnen beliebt, gleichgültig, wie die Wähler wünschen, dass sie handeln«, schreibt der Schweizer Philosoph Andreas Urs Sommer, Professor für Philosophie an der Universität Freiburg, in seinem Buch »Eine Demokratie für das 21. Jahrhundert. Warum die Volksvertretung überholt ist und die Zukunft der direkten Demokratie gehört«.
Als erstes muss man hier einmal, insbesondere von Wissenschaft und Medien, erwarten können, dass man der Gesellschaft, dem Volk, den Unterschied zwischen einer indirekten und direkten Demokratie erklärt. Dies findet leider nicht statt. Immer wieder und überall wird nur über Demokratie geredet, nicht aber über ihre zu differenzierende Form. Bei vielen Menschen ist hier sogar Naivität im Spiel. Man glaubt an einen neutralen Staat, der immer nur das Beste für seine Bürger und Bürgerinnen will. Hier muss zweitens Aufklärungsarbeit geleistet werden. Denn einen neutralen Staat, der das ganze Wohl der Gesellschaft im Fokus hat, gibt es selbstverständlich nicht. Dies müsste gelehrt werden, damit es sich tief im Bewusstsein der Gesellschaft verankert. Der auch im staatszentrierten Keynesianismus suggerierte Eindruck von wohlwollenden politischen Entscheidungsträgern war hier schon immer falsch und wird heute zu Recht von der Neuen Politischen Ökonomie (NPÖ) zurückgewiesen. So wie es ein Marktversagen in marktwirtschaftlich-kapitalistischen Ordnungen gibt, gibt es auch ein vielfältiges Staats- und Politikversagen. Politiker und Parteien verfolgen in indirekten parlamentarischen Demokratien Eigeninteressen, die zwar auch am Gemeinwohl orientiert sein können, aber nicht sein müssen, sondern in der Regel vielmehr nur Partialinteressen befriedigen. Hier besteht immer potenziell die Gefahr einer Verselbstständigung. »Der Bundestag agiert abgehoben und fern der Lebensrealität der Menschen«, kritisiert die Soziologie-Professorin Christiane Bender von der Helmut-Schmidt-Universität der Bundeswehr Hamburg in einem Interview mit der Frankfurter Rundschau. Dies führt, verständlicherweise, zu einer zunehmenden Demokratieverdrossenheit im Volk. Bei der letzten Bundestagswahl 2021 stellten die Nicht-Wähler die größte »Partei«. Bezogen auf die Wahlberechtigten ist die derzeitige »Ampel-Regierung«, bestehend aus SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP, nur von 49,5 Prozent, also knapp der Hälfte der Bürgerinnen und Bürgern gewählt worden. Das Vertrauen in die Demokratie schwindet seit der Wahl besonders rapide, stellt in einer jüngsten repräsentativen Umfrage die Körber-Stiftung fest. Danach sagten 71 Prozent der Befragten, dass führende Leute in Politik und Medien in ihrer eigenen Welt lebten, aus der sie auf den Rest der Bevölkerung herabschauten, und fast die Hälfte der Deutschen (46 Prozent) findet, dass es im Land weniger bis gar nicht gerecht zugeht. Um es aber im Land gerecht zugehen zu lassen, dafür gäbe es in Deutschland, in Summe eines der reichsten Länder der Erde, einen hinreichenden Spielraum, um Einkommen umzuverteilen. Gleichzeitig bestünde auch die Möglichkeit, in die völlig ungleiche Vermögensverteilung politisch einzugreifen. Dies vollzieht aber eben eine interessenorientierte Politik nicht.
In einer direkten Demokratie wäre dagegen eine solche kontraproduktive Politik nicht möglich. Dabei ist wohl der größte Vorteil das direkte Abstimmen der Bürgerin und des Bürgers über Sachfragen. »Nicht ein Mal alle paar Jahre in der Wahl von Repräsentanten alles auf eine Karte zu setzen, sondern unentwegt in der Sache gefragt zu sein. Direkt-partizipative Demokratie dient dem Komplexitätsabbau, oder vielmehr dem Abbau geballter Komplexität. Denn jede Sachentscheidung muss für sich getroffen werden; ich muss nicht ein Mal für vier Jahre jemanden mandatieren, der für mich alles entscheidet. Gerade in einer komplexen Gesellschaft ist nicht der parlamentarische Repräsentatismus das Gebotene, sondern die direkt-partizipatorische Demokratie«, schreibt zu Recht Andreas Urs Sommer.
Was offenbart sich hier? Wir brauchen in Deutschland, ja, in der gesamten EU eine direkte Demokratie im gesellschaftlich staatlichen Überbau. Davon sind wir aber selbst noch im Denken, geschweige denn in der politischen Umsetzung, ganz weit entfernt. Die »Ampelregierung«, die in ihrer politischen Außendarstellung das Demokratische immer wieder geradezu ostentativ hervorhebt, will mit einer auf Bundesebene möglichen Einführung von Bürger- und Bürgerinnen-Entscheidungen nichts zu tun haben, dies nicht einmal einer Prüfung unterziehen. Die Koalitionäre wollen stattdessen lediglich »die Entscheidungsfindung verbessern, indem wir neue Formen des Bürgerdialogs wie etwa Bürgerräte nutzen, ohne das Prinzip der Repräsentation aufzugeben«. Das ist aber weder eine notwendige, geschweige denn eine hinreichende Voraussetzung für eine direkte Demokratie, um die längst etablierte Politikverdrossenheit im Volk und die tiefsitzende politische Krise im Land zu beseitigen.
Dazu brauchen wir außerdem nicht nur eine direkte politische Demokratie, sondern zusätzlich eine Demokratisierung der Wirtschaft (vgl. dazu ausführlich das »Bontrup-Modell« in: Bontrup/Marquardt, Volkswirtschaftslehre aus orthodoxer und heterodoxer Sicht, Berlin/Boston 2021, S. 884 ff.). Denn die Verhältnisse in der kapitalistischen Wirtschaft sind tatsächlich sogar autokratisch. Einseitig haben die Kapitaleigentümer das Sagen, weil sie über das »Investitionsmonopol« (so der herausragende Ökonom Erich Preiser) verfügen und die abhängig Beschäftigten sich dem zu beugen haben. Eine paritätisch-qualifizierte Mitbestimmung gibt es nicht. Demokratie im Staat, selbst wenn es nur eine indirekte ist, und Autokratie in der Wirtschaft: Eine solche Dichotomie schließt sich zwar, wie wir täglich sehen, nicht aus, sie ist aber nicht zukunftstauglich. Auch in der Wirtschaft werden die abhängig Beschäftigten nicht mehr lange den Zustand von »Untertanen der Kapitaleigentümer« akzeptieren. Sie wollen in den Unternehmen mitreden, mitbestimmen und auch an den Ergebnissen partizipieren. Preiser konstatierte hier schon 1965: »Konsequent durchdacht, muss sich die Forderung mitzubestimmen in die Forderung verwandeln mitzubesitzen. Keine wirtschaftliche Tätigkeit ist denkbar ohne die Verfügung über Produktionsmittel. Ihr Eigentümer hat notwendigerweise ein Übergewicht über den, den er an diesen Produktionsmitteln beschäftigt. Das bloße Mitreden ist nur eine halbe Sache – erst die Teilnahme an den Produktionsmitteln schafft klare Verhältnisse.«
Und wo bleibt hier die Stimme der Gewerkschaften? Der DGB hat 1949 in seinem ersten Grundsatzprogramm eine Wirtschaftsdemokratie gefordert. Die Umsetzung der Forderung scheiterte an der Adenauer-Regierung, und danach kam außer dem Montan-Mitbestimmungsgesetz nur noch wenig bis gar nichts in Sachen Wirtschaftsdemokratie. Das aktuelle DGB-Grundsatzprogramm »Markt, Staat, Mitbestimmung und Gestaltung« ist völlig enttäuschend und bleibt hinter der Forderung nach einer Wirtschaftsdemokratie weit zurück. In den Einzelgewerkschaften wird nicht einmal das so fundamental wichtige Thema diskutiert. Zuletzt hat hier die ver.di-Basis 2015 mit Unterstützung von Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen einen Vorstoß gewagt, der dann aber völlig in den Mühlen der Gewerkschaftsbürokratie untergegangen ist und damals auch nicht so richtig vom Bundesvorstand gewollt war. In der Begründung zur Konstituierung der »Arbeitsgruppe Wirtschaftsdemokratie beim ver.di Bundesvorstand« hieß es jedenfalls: »Die Gewerkschaft ver.di will (…) die Diskussion um Wirtschaftsdemokratie anstoßen – sowohl innerhalb der Gewerkschaften als auch mit den sozialen Bewegungen. Dies ist nötiger denn je.« Wohl wahr! Und was wurde daraus? Nichts!