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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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»Der Bau« – Kafkas Vermächtnis

»Der Bau« ist im November/​Dezember 1923 in Ber­lin ent­stan­den, ein hal­bes Jahr vor Kaf­kas Tod. Der Dich­ter hat­te sich von sei­ner Hei­mat­stadt Prag gelöst (»das Müt­ter­chen Prag hat Kral­len«, kon­sta­tier­te er), leb­te zum ersten Mal mit einer Frau zusam­men, der pol­ni­schen Jüdin Dora Dia­mant, und ver­brach­te hier in Ber­lin – bereits im Ange­sicht des Todes – die wohl glück­lich­ste Zeit sei­nes Lebens. Der läng­ste Text, den er in Ber­lin schrieb, hat dann von sei­nem Freund und Nach­lass­ver­wal­ter Max Brod den Titel »Der Bau« erhal­ten. Die­se Erzäh­lung ist ein Modell­fall für die glei­ten­de, pro­zes­sie­ren­de Meta­pher der Erzähl­wei­se Kaf­kas mit ihren inein­an­der über­ge­hen­den Veränderungen.

Sie ist als Fabel und Para­bel gele­sen wor­den, hin­ter deren sinn­li­chen Bil­dern und Vor­gän­gen sich ein ande­rer, tie­fe­rer Sinn ver­birgt, der gleich­falls der Ent­schlüs­se­lung und »Aus­le­gung« bedarf. Man hat sie als Para­do­xie ver­stan­den, als Alle­go­rie oder – genau­er gesagt – als alle­go­ri­schen Sinn­ent­zug ange­se­hen, der die Gestal­ten und Din­ge ver­schwim­men lässt und ihnen den Boden weg­zieht. Oder müss­te sie doch eher als eine ins Para­no­ide gehen­de Angst­ge­schich­te, als eine mit auto­bio­gra­phi­schen Signa­len ver­se­he­ne Künst­ler­ge­schich­te oder über­haupt als ein Werk selbst­the­ra­peu­ti­scher Über­le­bens­kunst gedeu­tet wer­den? Auch wenn man bei den vie­len unab­ge­schlos­se­nen Tex­ten Kaf­kas über die feh­len­den hand­schrift­li­chen Manu­skript­sei­ten ver­fü­gen wür­de, so wäre des­halb die Rat­lo­sig­keit die­sem Text wie auch ande­ren Tex­ten des Dich­ters gegen­über kaum geringer.

In die­ser Erzäh­lung spricht ein dachs­ar­ti­ges Tier – könn­te es auch ein Maul­wurf sein? – von sei­nem »wohl­ge­lun­ge­nen« Bau, sei­nen ver­deck­ten Ein- und Aus­gän­gen, sei­nen Schein-Ein­gän­gen, Plät­zen, Räu­men, Vor­rats­kam­mern, sei­nen Laby­rin­then und Burg­wäl­len, sei­nem Gefühl der Sicher­heit, das der Bau ver­mit­teln soll. Aber immer unsi­che­rer erscheint dem Leser die­ses Bau-Tier, immer uner­sätt­li­cher in sei­ner Sicher­heits-Gier, immer ver­wund­ba­rer in sei­nen Sicher­heits­vor­keh­run­gen, bis dann auch vom »Zischen« eines gro­ßen Fein­des die Rede ist, der dem nach tota­ler Sicher­heit stre­ben­den Tier zur exi­sten­ti­el­len Gefähr­dung wird. Der Bau ist sozu­sa­gen die Chif­fre des Men­schen, der sich sei­ne Exi­stenz schafft, sie zu sei­nem Gesetz macht, mit die­ser sich aber selbst bedroht. Den Ent­frem­dungs­pro­zess der moder­nen Gesell­schaft hat Kaf­ka schon früh durch­schaut und nicht nur als Span­nung zwi­schen dem Ein­zel­nen und der Welt, dem »Ich« und dem »Man«, son­dern auch im »Ich« selbst emp­fun­den. Gesucht wird die Lücke in dem unauf­hör­li­chen Gere­de des erzäh­len­den, reflek­tie­ren­den Ichs, des Bau-Tie­res, der Aus­gang aus einem Laby­rinth, das sich in stän­di­gen Such­be­we­gun­gen immer wei­ter aus­baut, um ein Ende des unab­läs­si­gen Über­le­gens und Argu­men­tie­rens in einer Gewiss­heit, ein Ende der Angst im »Bau« zu errei­chen. So wird Kaf­kas Schrei­ben wie unser Lesen immer wie­der in schwin­del­erre­gen­de »Zir­kel« und Krei­se gedreht, und wenn über­haupt, dann bie­ten doch wie­der nur die rät­sel­haf­ten Figu­ren, wie hier das Bau-Tier, einen gewis­sen Halt. Die­se Ket­te sich stän­dig erneu­ern­der Über­le­gun­gen, Ver­zö­ge­run­gen, Täu­schun­gen, bei deren Dar­stel­lung die Feder des Autors sich selb­stän­dig gemacht zu haben scheint, der Fin­ten, die erst in der stra­te­gi­schen Gesamt­kom­po­si­ti­on die­ses Erzäh­lens zu ihrem Recht kom­men – das wird hier zum span­nen­den Lek­tü­re-Erleb­nis. Aber eben der Umschlag des jeweils Erwar­te­ten ins Uner­war­te­te erfolgt dann eben nicht. Die­ses Nicht-zur-Sache-Kom­men, die­ses Umschwei­fi­ge, Aus­schwei­fen­de, Umwe­gi­ge, das Vor­bei­re­den macht Kaf­kas Erzäh­len der wech­seln­den Per­spek­ti­ven aus. Soll­te sich aus der Anord­nung der ein­zel­nen »Bau­ele­men­te« dann wirk­lich ein Bau­prin­zip erge­ben, so gewiss kei­nes, bei dem in den man­nig­fal­ti­gen Inter­pre­ta­tio­nen Über­ein­stim­mung bestehen könnte.

Denn ver­schie­de­ne Kon­text-Wel­ten haben mög­li­che Bedeu­tun­gen des »Bau­es« nahe­ge­legt. So kann es hier ganz exi­sten­zi­ell um Sor­ge und Vor­sor­ge gehen, aber auch um den Schutz gegen Fein­de und Natur­ge­wal­ten. Aber han­delt es sich nicht auch um ein depres­si­ves Zwangs­ver­hal­ten und altru­isti­sches Eigen-Inter­es­se die­ses Tie­res, oder könn­te es sich nicht, gera­de auf den letz­ten Lebens­ab­schnitt des von Lun­gen­tu­ber­ku­lo­se und Husten­an­fäl­len gepei­nig­ten Kaf­ka bezo­gen, um die Bedro­hung durch Krank­heit und Tod han­deln? Ist mit dem »Bau« nicht das schrift­stel­le­ri­sche Werk Kaf­kas gemeint, wird nicht in dem sich stän­dig ver­hed­dern­den, aber doch ratio­nal durch­drun­ge­nen Grü­beln die­ses Ich-Erzäh­lers, des Tie­res, Kaf­kas Erzähl­kon­zept transparent?

Ja, die Sor­ge des Bau-Tie­res um Schutz und Gebor­gen­heit nimmt in sei­ner psy­cho­pa­tho­lo­gi­schen, ver­bohr­ten Grü­be­lei den Cha­rak­ter zwang­haf­ter Absi­che­rung an. Die abso­lu­te Sicher­heit bestün­de im Gra­ben eines »Gra­bes« ohne Aus­gang (welch eine Para­do­xie!); doch das »Loch« der neu­ro­ti­schen Angst kann nicht ver­schlos­sen wer­den. Das Tier ist in einem unlös­ba­ren Dilem­ma: Je mehr es sich um »Stil­le«, »Ruhe«, »Allein­sein« und »Schutz« bemüht, desto geräusch­vol­ler, unru­hi­ger, gefähr­de­ter erscheint sein »Bau« durch die­ses bedroh­li­che »Zischen«. Es könn­te viel­leicht – so Kaf­ka – von »einer gro­ßen Her­de klei­ner Tie­re« oder von einem ein­zel­nen »gro­ßen Tier« her­rüh­ren. Das wird nun zur Alle­go­rie der Angst, wel­che über­haupt Grund und Resul­tat des zwang­haf­ten Bau­ens ist. So gräbt sich das dachs­ähn­li­che Tier sein »Grab« in die Erde, denn durch sei­ne Abwehr und sei­ne Ver­drän­gun­gen wird ja Leben ver­nich­tet und Tod her­vor­ge­ru­fen. »Auf­schub« bedeu­tet hier nichts ande­res als eben eine Art »Ster­ben«. Im Namen der Ret­tung und des Schut­zes des Lebens führt jeder Schritt para­do­xer­wei­se zur Gefähr­dung und Ein­schrän­kung eben­die­ses Lebens. Das Bau­en nimmt daher den Cha­rak­ter eines Kamp­fes zwi­schen Leben und Tod, eines Kamp­fes um den Auf­schub des ver­meid­bar geglaub­ten und doch so gewis­sen, unver­meid­li­chen Endes an.

Wenn man das »Zischen« mit Kaf­kas Lun­gen­hu­sten asso­zi­iert, dann könn­te die­ser unbe­kann­te Geg­ner durch­aus auch die Krank­heit und der Tod sein. Es geht um ein Tier, das »ich noch nicht ken­ne«, oder »eine gro­ße Her­de klei­ner Tie­re«, also viel­leicht Mikro­or­ga­nis­men, Mikro­ben wie Bak­te­ri­en oder Viren. Doch die Gefahr wird »ver­drängt«, sie wird im Sin­ne des Psy­cho­ana­ly­ti­kers Sig­mund Freud »ver­leug­net«, also sowohl aner­kannt als auch abge­wehrt: Das Tier gräbt ver­zwei­felt – und doch glaubt es »im Grun­de nicht« an ein böses Ende. Der Geg­ner wohnt im Inne­ren; daher hört das Tier auch am Ende außer­halb sei­nes Bau­es »tie­fe Stil­le«, in sei­nem Bau hin­ge­gen herrscht Unru­he, das so unein­deu­ti­ge »Zischen«. Den­noch bleibt die­ser Geg­ner ein »Ande­rer« – sei es im Innern, sei es im Äußern. Der äuße­re Feind ist durch den inne­ren, durch Zwang und Angst, ersetzt wor­den, ist Sym­ptom, Krank­heit und auch – aller­dings nur schein­bar – Hei­lung gewor­den. Das ist die glei­ten­de Meta­pher, die zu Vexier­bil­dern, zu Bild­ver­zer­run­gen führt, die jenen »Zir­kel von Drin­nen und Drau­ßen« ergibt, die Innen­be­stimmt­heit des Außen und die Außen­be­stimmt­heit des Innen, wie sie als cha­rak­te­ri­stisch für Kaf­kas Erzähl­welt ange­se­hen wird.

Immer wie­der ver­bin­det sich die­se glei­ten­de Meta­pher mit der Para­do­xie; so wird der Bau der Sicher­heit schließ­lich zum Bau der Unsi­cher­heit, was er von Anfang an war. Das Unbe­wuss­te tritt in Wider­spruch zum Bewuss­ten. Der Bau scheint »wohl­ge­lun­gen« und ist doch miss­ra­ten. Das höch­ste Ziel des Bau­es soll­te sei­ne »Stil­le« sein, doch nun hat das Tier kei­ne »ruhi­ge Stun­de« mehr, beson­ders, sobald vom »Zischen« die Rede ist. Jetzt herrscht nur mehr außer­halb des Bau­es »tie­fe Stil­le«. Das Drau­ßen, der eigent­li­che »Ort der Gefahr ist ein Ort des Frie­dens« gewor­den. Soll das Tier nun zurück­keh­ren in die »sinn­lo­se Frei­heit«, vor der es ja geflo­hen war?

Die glei­ten­de Meta­pher – so ist in der Kaf­ka-For­schung ermit­telt wor­den – ver­bin­det sich also dort, wo ihre Bedeu­tun­gen ein­an­der mehr und mehr wider­spre­chen, mit der glei­ten­den Para­do­xie; aber auch jene Dop­pel-Meta­pher, die stän­di­ge Ver­wand­lung die­ses Zir­kels von Innen und Außen ist hier wie­der klar erkenn­bar. Die Kafka’schen Grund­fi­gu­ren ver­schrän­ken sich inein­an­der. In den Roman­frag­men­ten »Der Pro­zess« und »Das Schloss« ist jener pro­zess­haf­te, glei­ten­de und para­do­xe Zei­chen­pro­zess in gro­ßem Maß­stab insze­niert worden.

So kann man den »Bau«, den der tod­kran­ke Kaf­ka noch zu schrei­ben ver­moch­te, wohl als sein Ver­mächt­nis bezeich­nen. Trotz sei­nes frü­hen Todes mit 41 Jah­ren erreich­te sein Werk – aller­dings erst Jahr­zehn­te spä­ter – Welt­wir­kung. Tat­säch­lich heißt es im ersten Satz, der Bau sei »wohl­ge­lun­gen«, und im vor­letz­ten »aber alles blieb unver­än­dert«. Kaf­kas Bau ist eben nicht von einem unsicht­ba­ren Feind zer­stört wor­den, son­dern lebt mit uns, lebt viel­leicht sogar in uns fort.