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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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BEMENSCH

31. Janu­ar 2024. Gedenk­stun­de für die Opfer des Natio­nal­so­zia­lis­mus im Deut­schen Bun­des­tag. Gera­de hat die Holo­caust-Über­le­ben­de Eva Sze­pe­si ihre Rede been­det. Jetzt steht Mar­cel Reif am Red­ner­pult, der als Sport­jour­na­list im deut­schen Fern­se­hen einem Mil­lio­nen­pu­bli­kum bekannt wurde.

Er spricht über sei­ne Kind­heit in Polen, wo er 1949 gebo­ren wur­de. Sei­ne Fami­lie wan­der­te Anfang der 1950er Jah­re aus, »als sich wie­der anti­se­mi­ti­sche Strö­mun­gen breit­mach­ten«. Der Vater hat­te den Holo­caust über­lebt, die mei­sten aus sei­ner Fami­lie nicht. Über den »letzt­lich nicht trag­fä­hi­gen Umweg Isra­el« sei­en sie dann nach Deutsch­land gekom­men, in »das Land der Täter«, aber auch der Freun­de und Ver­wand­ten, die hel­fen konnten.

Er spricht vor allem über sei­nen Vater, berich­tet, dass die­sen »der spä­te­re Krupp-Mana­ger Bert­hold Beitz aus einem Todes­zug Rich­tung Ver­nich­tungs­la­ger geholt und ihm damit das Leben geret­tet« hat. Reif: »Ohne Beitz wür­de ich heu­te nicht hier stehen.«

Und er berich­tet, vor ein paar Jah­ren habe ihn in Ber­lin ein Mann auf der Stra­ße ange­spro­chen, habe ihn gefragt, ob er ein paar Minu­ten Zeit erüb­ri­gen kön­ne für einen Kaf­fee, denn er wol­le ihm etwas über sei­nen Vater erzäh­len: »Auf der Flucht durch die Wäl­der hat­te Vater ihn, den Vier­jäh­ri­gen, auf den Schul­tern getra­gen und ihm so das Leben gerettet.«

All das wis­se er erst heu­te, sag­te Reif, denn: Der Vater »woll­te die­sen ver­schlos­se­nen Raum in unse­rem Lebens­haus auch nicht mal einen Spalt breit öff­nen«. Erst Jah­re nach sei­nem Tod sei offen­bar das Schwei­ge­ge­löb­nis der Mut­ter abge­lau­fen, und sie durf­te spre­chen, kund­tun, was gesche­hen war.

Viel zu spät habe er begrif­fen, so been­de­te Reif sei­ne Rede, dass der Vater ja doch gespro­chen habe und ihm all das gesagt und mit­ge­ge­ben habe, »was ihm wich­tig war; was er geret­tet hat­te, als Essenz destil­liert aus all dem Unmensch­li­chen der Häscher und Mör­der, aus dem Über­mensch­li­chen eines so muti­gen Bert­hold Beitz, aus dem, was er selbst gelei­stet hat­te mit dem klei­nen Jun­gen, der sei­ne eige­ne Mensch­lich­keit abge­fragt hatte«.

Das alles habe sein Vater in einen klei­nen Satz gepackt, als Mah­nung, als War­nung, als Rat­schlag oder als Tadel, in dem war­men Jid­disch, das er so sehr ver­mis­se: »Sej a Mensch!«

*

14 Tage vor die­ser Gedenk­stun­de im Deut­schen Bun­des­tag erschien in Ossietzky mei­ne Rezen­si­on des Buches Es stand in der Zei­tung von Axel Red­mer, ein inzwi­schen schon in drit­ter Auf­la­ge erschie­ne­nes muster­gül­ti­ges Kom­pen­di­um mit Arti­keln zur Regio­nal­ge­schich­te aus dem rhein­land-pfäl­zi­schen Land­kreis Bir­ken­feld, mei­ner alten Hei­mat. Ein Kapi­tel des Buches beschäf­tigt sich mit dem New Yor­ker Stadt­teil Washing­ton Heights. Dort wohn­ten ab 1934, teils vor­über­ge­hend, mit­un­ter bis an ihr Lebens­en­de, rund 100 über­wie­gend jüdi­sche Flücht­lin­ge aus der Nahe-Regi­on, 30 000 kamen ins­ge­samt wäh­rend der NS-Zeit hier­her ins Exil, vor allem aus Südwestdeutschland.

Auf Sei­te 243 des Buches ist das Foto eines Schil­des aus der Cafe­te­ria des jüdi­schen Muse­ums am Cen­tral Park in New York abge­druckt, um zu ver­deut­li­chen, wie sehr die All­tags­spra­che in der Migran­ten­me­tro­po­le am Hud­son seit den 1930er Jah­ren Wör­ter aus dem Sprach­schatz jüdi­scher NS-Flücht­lin­ge auf­ge­nom­men hat. Das Schild for­dert die Besu­che­rin­nen und Besu­cher dazu auf, mensch­lich zu blei­ben, und das mit den Wor­ten, die auch Mar­cel Reifs Vater gekannt hat: BEMENSCH.

Die Rede Mar­cel Reifs ist unter www.bundestag.de doku­men­tiert. Der Text »Geschich­te in Geschich­ten« über das Red­mer-Buch erschien am 13. Janu­ar in Ossietzky 1/​2024.